Sonntag, 21. Dezember 2008

Notiz über das Vertrauen

Inwieweit kommt das Anvertrauen an einen Menschen einer Selbsthäutung gleich? Und nach welchen Maßstäben wählen wir diesen Menschen aus, mit welchen Tugenden begegnet er uns, dass wir uns ihm hingeben, uns vor seinen Augen und seinem Herzen gänzlich bis auf das truglose Fleisch enthäuten?

Es mag eine Notwendigkeit sein, ein innerer Drang, der uns veranlasst nach diesem Menschen Ausschau zu halten, nach dieser Gelegenheit zu gieren und sie zu ergreifen, sobald sie sich bietet. Zu zeigen wer und was man hinter aller Fassade ist, ist eine von Geburt an in uns schlummernde Begierde. Eine Lust zur Entfaltung, eines Aufblättern all dessen, was man verborgen haltend gepflegt und gedeihen lassen hat. Nichts anderes tun wir, während wir auf der Suche nach dem richtigen Menschen sind, nach diesem einen, dem gegenüber wir meinen, das Häuten sich lohnt. Wir hüten und umsorgen unser Innerstes, so dass es sich in den wunderbarsten Farben und Tönen dem eröffnet, den wir auserwählen.
Notiz über das Denken

Liebensfähig heißt lebensfähig sein. Das haben viele kluge Köpfe durchdacht. Nun stelle man sich einen vor, der sich selbst unter die Haut geht, sich zerlegt und zur Erkenntnis gelangt, ihm fehlt diese Liebensfähigkeit, die doch überlebensnotwendig ist. Man stelle sich diesen armen Kauz vor, wie er erkenntnisreich zwar aber zergliedert an der Tatsache seiner Unfähigkeit zu Grunde geht. Und nun bedenke man, ob es für diesen einen nicht lebensrettend gewesen wäre, wäre er sich nicht bis aufs Innerste gegangen. Und überkommt einen da nicht die Traurigkeit, wenn man erblickt, welche Wirkung der Erkenntnis folgt?

Samstag, 20. Dezember 2008

Ich stecke irgendwo in der Zeit, in einem unbekannten, nicht definierten Raum, einem Punkt, der sich nicht ausrichten lässt. Ich bin weder jung noch alt, ich stecke inmitten, bin dahinter und bleibe knapp davor. Als stände man auf einer Brücke und kann sich für kein Ufer entscheiden. Steht also, weilt und wartet wahrscheinlich solange, bis die Brücke bricht.

David sagt: Der Körper ist auf einen Planeten beschränkt.
Ginka sagt: DU wirst Montag ein blaues Wunder erleben.
David sagt auch: Der Gedanke kann uns in einem Augenblick in die entferntesten Gegenden schicken.
Ginka sagt dann: Mond wird Mund. Du lässt dich gehen.

Und beide beginnen das Mondlied zu summen. Ich höre sie. Und sie wissen nicht, dass sie nur in meinem Kopf zusammen existieren, nur mir bildlich in Erscheinung treten, wie sie jeder für sich sind oder waren. Denn ich kenne sie nur aus einer Zeit, die gewesen, längst abgeschlossen und nur in Bruchstücken anhaltend ist.

Die Zukunft wird der Vergangenheit ähnlich sein. Behauptet David. Also ist das, was mich erwartet, dem, was ich kenne nicht fremd. Ich werde alt und wie ich schon immer gewesen war sein.



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ginka steinwachs
david hume

Dienstag, 9. Dezember 2008

Die Zeit altert ihn aus den Kleidern, und die Einsamkeit lässt ihm das Herz hart wachsen. Es vergreist und schlägt dennoch einen Takt, der ihn antreibt. Wenn dieser Rhythmus nicht wäre, denkt er zuweilen, könnte er zur Ruhe kommen, sich ausklingen lassen und dem Sterben in die Hände geben. Aber solange das asphaltierte Herz hämmert, wird er dorthin zum Stillen nicht kommen. Er faltet die Hände über den Bauch, senkt den Kopf in den Nacken, fühlt durch die Haut sein hartes Herz schlagen und lauscht der Nacht. Wie sie hereinbricht, als wäre sie seit Jahr und Tag angemeldet gewesen. Stürzt durch Türen und Fenster, vergreift sich an allem, nicht nur an fassbaren sondern auch an allen unfassbaren Dingen. Und so geschieht es immer wieder, dass sie auch ihn ergreift. Sein Körper ist vom Dunkel des Zimmers kaum länger zu unterscheiden. Wie die Dinge im Raum, verliert er an Farbe, an Kontur. Bis von allem nur noch ein Umriss, eine Ahnung im Dunkel zurück bleibt. Die Nacht macht vor seiner Haut nicht Halt. Sie dringt tiefer, dringt ein, erreicht durch die Blutbahnen das Herz, breitet sich aus, dunkelt ihn innenwendig. Wenn es gelinge im Dunkel zu sehen, man sähe die Nacht durch seine Haut kriechen und aus seinem Mund atmen. Da, wo man die Wunde am wenigsten vermutet, ist sie am wehesten, sagte er, als er noch unter Menschen war.
In der Einsamkeit wird der Superlativ unablässig. Man ist nur sich selbst Freund oder Feind. Wenn es dem Einsamen schlimm ergeht, so ergeht es ihm am schlimmsten. Sein Leid ist das größte, seine Liebe die tiefste, seine Wirklichkeit die wahre. Der Einsame ist sich selbst Maßstab aller Dinge und Angelegenheiten.

Mittwoch, 26. November 2008

Bin über die Nerven hinaus gespannt. Auf den Straßen treiben Autos, über den Dächern liegt eine undurchdringbare Dunkelheit. Ich kann nicht weiter, nicht weiter als kurz hinter das Glas, wo das Dunkel fühlbar beginnt, wo es eindringt und einen in Besitz nimmt. Nur fern erleuchtete Fenster zeugen von der Existenz entfernter Möglichkeiten.

Am Fluss bin ich seit Monaten nicht gewesen. Die Ratten werden mich vergessen, die Möwen übersehen haben. Ich asphaltiere. Über die Fußsohlen schleicht sich der graue Stein. Ich beginne mich kopfüber zu untergraben, Leitblanken zu bauen und Notausgänge zu zimmern. Wenn einer eindringt, lärmt das Frühwarnsystem. Es schellt und blitzt grell dem Eindringling in die Augen, so dass er zurück schreckt und die Eile drosselt, langsam wird, zum Stillstand kommt. Dann erst fühlt auch er sich steinig werden.

C. hat seit Jahren nichts von sich hören lassen. Ich weiß um ihn in bitterer Einsamkeit. Seine Entscheidung, der ich mich nicht entgegensetzte, als es vielleicht an mir war, die ihn umringende Einöde aufzusprengen. Aber wer behauptet, dass ein Herz als einziges Schmuckstück auf weit bracher Flur nicht heller glänzt als eines im Garten Eden zwischen all den anderen? Den Hochhausherzen, die sich weit im obersten Stockwerk aus den Fenstern lehnen um dem Himmel nah zu sein. Wenn ein Herz mit den Augen sehen könnte, es würde sich von der Entfernung nicht täuschen lassen. Der Abgrund nämlich ist ihm viel näher, als der Himmel es jemals sein wird.

Freitag, 21. November 2008

Ernsthaftigkeit. Aufrichtig, rechtschaffen, gewichtig. Mir fehlt bis dahin jeder erdenklich tretbare Schritt. Dass Sprache sich im Gebrauch derart voneinander unterscheidet, ist für mich ein Phänomen, dessen reale Existenz mikroskopisch betrachtet, nicht zu untergraben ist. Die Sache an sich gelangt erst durch ihren Gebrauch zu Sinn und Inhalt. So wie eine Birne roh oder als Mus, gekocht oder gebraten verspeist werden kann, wird Sprache ebenso unterschiedlich angewandt. Kein Mensch ist dem anderen in seiner Sprache ähnlich. Weshalb die Wortwahl des einen als angenehm, die des anderen als roh und kraftstrotzend angenommen wird, liegt nur an den Vorlieben der Einzelnen. Der eine mag die Birne frisch vom Baum gepflückt, ein wenig noch grün und fest. Der andere hingegen muss bei diesem Gedanken würgen, weil er meint, die Birne trage erst den richtigen Geschmack, wenn sie gelb, weich und saftig gereift ist. Ein Dritter speist Birne nur gekocht als Kompott.

Ich finde mich in Büchern eher in der Sprache als in der erzählten Geschichte zuhause. Deswegen lege ich durchaus interessante und spannende Bücher aus der Hand, weil ihre Sprache mir kein Obdach bietet. Ich kann mich nicht unter Brücken, auf denen das Leben zwar tobt, und unter denen man kaum zur Ruhe kommt vor Spannung, legen, wenn sie nicht auch schön sind. Hingegen kann ich unter schönen, wenn auch wenig aufregenden Brücken weilen ohne etwas zu vermissen. Ja, sogar länger bleiben als notwendig oder wieder zurückkehren, weil das Schöne immer eine Sehnsucht in einen pflanzt. Es bleibt.

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Mit dem aus Afghanistan habe ich getrunken. Der, der früher nicht trank, trank dafür jetzt schnell und viel. Ich musste das körperliche Leid am nächsten Tag austragen. In jeder Hinsicht war mir übel, und ich glaubte mich nie wieder in die Nähe eines Weinglases begeben zu können. Der aus Afghanistan hat sich bisher nicht wieder gemeldet. Die Frau hat ihn verlassen, was ihm jetzt soviel wie ein Freifahrtsschein fürs Leben bedeutet. Menschen können nicht anders. Schmerz überspielt sich am besten mit praller Lebenslust. Ich stelle mir die Landschaften in ihm vor. Die dreckige Wüste, das Minenschlachtfeld, den Dschungel und die Schneefelder im Osten. Wenn Frühling wird, stelle ich ihn mir in voller Blüte vor.

Der aus Afghanistan spricht meine Kindheitssprache. Er wird mir Erinnerung sein, solange wir miteinander reden.

Mittwoch, 12. November 2008

Novemberemotion. Das ist gelb, braun, rot, das ist alles loslassend, fliegend Welkende. Das ist das überlaubte Herz, diese Blutlandschaft, die raschelt, wenn man sie durchschreitet. Und tief im Innern regt sich, was sich bereits zum Schlaf ausgestreckt hat, regt sich gegen das Laubgetöse.

Ich lese Herta Müller und stelle mir diese Sprache als Person mir gegenüber vor. Ich weiß nichts zu sagen, nur Fragen drängen über meine Zunge, an die Lippen, an verbissene Zähne. Ich lese Flucht und sehe drei Worte, einen Punkt. Beinah niemals Komma, keine Ausschweifungen. Ich denke an Cornelia Schleime, an Katja Lange-Müller, stelle alle diese Sprachen einander gegenüber. Sie werden dreierseits nicht warm, aber beieinander bleiben sie, beinah noch eingehakt, als wollten sie zu einem Spaziergang aufbrechen. Vielleicht ohne Heimkehr. Oder gerade deswegen.

Ich löse die Menschen in mir. Löse einen nach dem anderen ab, trenne fein säuberlich aller Leben voneinander. Als sei das Ganze nur im Einzelnen betrachtet möglich. Wenn ich scheitere, dann an der Feinstarbeit, am Nähte-Trennen, am Aufreißen und Wieder-Säumen.

Wie viele Leben sind es deren Geschichten in meinem Kopf existieren?
Und. Wie viel von Ihnen bin ich?

Randnotiz: WIEDERHOLUNG

Mittwoch, 5. November 2008

Meine Augen rollen in ihren Bahnen und reißen, was ihnen im Weg steht kegelhaft ein. Um meine Blicke herum ein Scharren und Scheppern, ein Dahinwälzen und Stürzen. Wohin ich sehe, ist Zerstörung und Brachland.
Die Männer mit ihren offenen Wunden, die sie pflegen und die vom Leben erzählen. Der eine, der auf dem Bordstein sitzt und zum Himmel schaut, als sei ausgerechnet der eine Krücke, eine Stütze, auf die man sich lehnen kann, wenn die eigene Kraft fehlt, weil sie verloren gegangen, weil sie auf Umwegen verschwendet worden ist. Ausgerechnet dieses menschenleere Gotteszelt, das beim leisesten Wind aufbläht und auseinander reißt.
Der sitzt dort und prahlt mit leerem Magen von Liebschaften und Hinterhalten, dabei kann der nicht einmal aufrecht auf den Beinen stehen. Und dazwischen hält sich sicherlich noch weniger aufrecht, wenn sich dort überhaupt noch etwas im guten oder in einem annehmbaren Zustand hält, sind es krause Filzläuse. Mit Fingern kann man die auszählen.
Oder die gebuckelten Frauen, die über die Straßen schlürfen, als schlichen sie immer nur durch die Leben anderer. Und über was ist besser zu reden als über das, was mich nichts angeht. Diese Münder, die nicht stillstehen, wie sie sich unter den dunkel geränderten Augen auf- und wieder zutun, als schnappten sie nur nach der Luft, die die Augen zuvor genau besehen hatten, dass nichts Unbetrachtetes in den Mund hinein geriet.

Montag, 3. November 2008

Woher zieht sich alles Sprechbare?

Im Geschwätz verrate ich mich und sehe mich vor mir selber fliehen, wie ich renne und laufe, stolpere, auf allen Vieren krieche. Schwätzen ist die größte aller Fluchten …
Nackt. Dabei gebe ich nichts preis. Von mir keine Spur zwischen den Zeilen. Tauben sehe ich keine mehr, nicht Spatzen noch Habichte. Die Dächer sind ruhig wie der Himmel. Keine Regung im Augenblau der Ferne. Nirgends ein Punkt, keine Anzeichen einer vielleicht in sich verlorenen Pupille.
Frohsinn und Traurigkeit sind wie Tag und Nacht, das eine fällt in das andere hinein, meiner Nacktheit ungeniert gegenüber. Angst ist es nicht. Es ist Gewissheit, ist der Entschluss, der wie ein Fallbeil hinabsaust und das eine vom anderen trennt. Den Leib vom Kopf, das Sprechen meiner Seele von Handgreiflichkeiten meiner Körper. Alles an mir ist körperlich, das heißt schwere- und gewichtlastig. Mein Arm ist Körper, mein Augenlid ist Körper, mein Hals ist Körper, mein Herz ist Körper. Schlagkörper.

Abgrund, dort ankommen, um deutlich bessere Aussicht zu haben. Im Vergleich wozu? Wie weit ist abgründig und was ist der Ort, diese wenigen Zentimeter vor dem Abgrund. Weshalb bestimmt der Standort die Sicht und nicht das Auge, das Herz, der Sinn? Wie tief ist abgründig, und wie tief ist des Menschen Seelenleben, lohnt ein Tauchgang in die geistigen Korallenriffe anderer Menschen? Oder ist der Mut es wert, die eigenen zu erkunden, an wessen Leine lässt man sich hinab, mit der Gewissheit wieder Oberwasser zu gewinnen?

>Alle Menschen sind sterblich<
und: setzt das nicht die Lebendigkeit Aller voraus?

Und: setzt das nicht die Lebendigkeit des Einzelnen voraus, obwohl einige nur in der Masse existieren?

Der Wind setzt mir Segel und Läuse ins Haar. Ich treibe über Ozeane vom Netz der Haare getrieben.

Dienstag, 21. Oktober 2008

Niste in den höchsten der Bäume. Immer wie ein Greifvogel an kantigen Klippen. Jederzeit absturzbereit. Du magst dazu meinen, dass jeder Angriff die Möglichkeit des Sterbens beinhaltet, ich sage dir, dass es sich Leben nennt, was uns verbindet, was wir auszufüllen suchen zwischen den Zeiten, in denen wir so still, leblos gegenüber sitzen.

Aber vielleicht, weil ich nicht wie du bin, haben wir uns nichts zu sagen. Und auch deswegen starren wir einander an, ohne zu ahnen, weshalb, dabei ist es eben diese Faszination des Anderen. Wir begreifen diese Fremdartigkeit nicht, nicht deren unüberbrückbare Nähe. Ich sehe, wie deine Lippen in Bewegung geraten und taste mit den Fingern nach meinen, weil ich fürchte, sie würden wie deine rau, rissig und welk werden.

Freitag, 17. Oktober 2008

Bin hinter den Schalen von Heute noch immer beim Gestern geblieben. Kaum eine Chance etwas daran oder auch dahinter zu ändern. Nirgends Aussichten auf irgendetwas. Und wer meint, das Herz wisse Bescheid, der war nicht mit dem Herzen in Angelegenheiten verwickelt. Denn es hat keine Ahnung von dem, was sich oberhalb, was sich im Kopf abspielt. Von Vernunft ist brustwärts keine Spur. Durch ein Dickicht sah ich mich schlagen, von Schlingpflanzen der Gefühle überwältigt, geknebelt, lag ich nieder wie im Fieber.

Allerorts gegenwärtig sind Schuld-, Macht- aber auch Lustgefühle. Außerhalb allen vernunftbestrebten Denkens regiert Emotion. Ein Schau- und Kampfplatz. Angriff und Verteidigung.

Ich bin es müde, wie das Herz sich manchmal aufspielt, sich hinweg und hinüber setzt. Als dehne es sich aus dem Brustkorb heraus und überfiele so alles übrig Menschliche. Mit Äuglein schaute man wie aus einem zu groß geratenen, hoch geschlossenen Pelz aus diesem Herzen hervor und wisse gar nicht wohin.

So viel getriebenes Herz um einen.

Dienstag, 7. Oktober 2008

Ich weiß nicht wohin, aber es führt mich nicht weiter.
Ich komme mit den kleinen Schritten nicht länger hin, ich muss größere setzen. Ob ich damit über mich selbst hinaus gelange, wird man sehen, wenn man nicht vorsieht wegzusehen. Die Gefühle rutschen mir in die Beine, und so beginne ich zu springen, zu hinken, zu lahmen, zu eilen. Schließlich sind Beine der Fortbewegungsanhang des Übrigen. Sie sind die eigentlichen Fluchtkörper, sie machen mich zu der, die ich in der Bewegung bin. Gehende, Schaukelnde, Tanzende. Wie selten ich in Ruhe anzutreffen bin.

Ich habe etwas über Abgründe gelesen und an eine gedacht, an die ich länger nicht dachte. Darüber hatte ich dann nachgedacht und vergessen, was ich dachte. So passiert es, dreht man sich um sich selbst. Aber was geschieht, dreht man sich um andere ist dem gar nicht so fern.

Die Stadt liegt und die Landschaften umher ruhen. Sie kommen nicht, obwohl der Laubverlust der Bäume es doch verursachen sollte, aus dem Gleichgewicht. Dabei ist dieser Blattabwurf durchaus mit der Ebbe vergleichbar. Alle Fülle schwindet. Zieht sich in sich selbst zurück.

Ich schwinde.

Es bricht Zeit an. Zeit zum Wärmen, zum Verstecken und hinter dicke Kissen zu kriechen. Der Kessel wird aus den Tiefen der Küche hervorgekramt. Alte Teetüten geleert und Dosen mit frisch gekauften Teeblättern aufgefüllt. Die Suppenteller wandern aus den hinteren Regionen ans Tageslicht auf den Tisch. Die Stövchen werden mit Kerzen bestückt, die Pflanzen vom Balkon in die Stube geholt. Es bricht Kälte mit der frühen Dunkelheit herein.

Ich ziehe zurück. Mich in mich selbst, in wärmere Gefilde.

Dienstag, 30. September 2008

Fluchtpunkte.

Seine Haare sind hoch gewachsen. Normal würde man sagen, er sei hoch gewachsen, aber an ihm sind es nur die Haare. Hier in diesem Raum ragen sie um seinen Kopf wie fades Schilf um einen leblosen See. Ich kann mir darin ein leises Rauschen vorstellen, ein Wehen und Winden, eines, was sich nicht getraut auszubrechen. Denn einmal aus dem Schutz der mannshohen Röhren ausgebrochen, würde ein Wehen, ein Winden vom Tosen erfasst zu einem unzähmbaren, wilden, einem Toben und Blasen. Das wiederum kann ich mir um diesen lebensstillen Kopf herum nicht vorstellen.
Es ist sein Raum, in dem ich mich mit Mühe bewege, weil jede Auffälligkeit ihn aus der Ruhe reißen könnte. Er sitzt und denkt, vielleicht an die Jahre vor unserer Bekanntschaft, an diese Zeit ohne Dauer, als die Sonne ihn morgens nicht störte und er noch bis weit in den Tag hinein schlief. Wenn man ihn aus der Ruhe reißt, beginnt er im Raum zu schwanken und man ist so wenig sicher vor ihm, wie vor einem im Erdbeben wankendem Hochhaus. Unermesslich ist die Sicherheit des eintretenden Todes. Diesen Raum hat er sich erkämpfen müssen, sagte er, als ich ihm verwundert gestand, mich trüge mein Empfinden nicht und ich vermute, er hätte eine Kammer angebaut. Irgendwoher wehte Wind zwischen unsere Beziehung, ich wusste, da waren diese Gefühle, die er nicht zugab, die aber doch eines Platzes bedurften und er räumte. Ich fühlte ihn Kisten füllen, etwas von uns zwischen uns stauen, und er trug es davon, dorthin, woher es windete. Er war aus unserem Zweiraumdasein ausgebrochen, hatte heimlich angebaut. Erkämpft, wie er sagt. Eine Notwendigkeit, eine Feuertreppe, ein Fluchtweg, dem ich den Rechtsanspruch nicht nehmen konnte. Mit keinem Wort, keiner Geste, keiner Empfindung. Ich ließ ihn stückweit und ergab mich seinem Kämpfen.
Seither diese Kapsel, dieser für mich luftleere Raum durch den ich mit allem Bedacht nichts zu berühren, wie in einem Raumanzug schwebe. Atemlos durchstreife ich seine Galaxien, seine Weiten auf engstem Raum, auf einem Grenzstück, das nicht zwischen, nicht zu uns gehört, sondern nur ihm. Sein Anspruch auf plötzlichen Rückzug, unbegründbares Verschwinden.
Er sitzt und nimmt mein Schweben an ihm vorüber gar nicht wahr. Vielleicht auch, weil ich unsichtbar für ihn bin, sobald er das Gebiet, was uns zwei zusammenzählt verlässt. Für ihn existiere ich nur an Ort und Stelle unserer Kreuzpunkte. Koordinaten in seinem Lebesystem. Meine Existenz tritt nur an Grenzpunkten in Kraft. Darüber denke ich während des Schwebens nach, und darüber, ob ich der erste Mensch sein werde, der diese Landschaft betritt, der erste, der seinen Fußabdruck setzen und für die Ewigkeit hinterlassen wird. Mein Stiefeltritt. Ganz klein für mich, kein Akt, keine Gewalttat, nur ein Versehen, viel mehr ein Betasten unbekannter Regionen. Über Beschaffenheit und Art konnte ich nichts gewusst haben, demnach die Folgen nicht vorhersehen, mit den Konsequenzen nicht gerechnet haben.
Dieses lange, nach Oben wachsende Haar, wie es Stille einkerkert, diesen leblosen Kopf noch rahmt, als gelte ihm eine besondere Aufmerksamkeit. Hier am Flucht-, am Ausgangspunkt zu fremden, von Menschen völlig unbekannten Welten. Keine Gewalttat, nur ein Tritt im unbestimmten Raum, ich konnte nicht wissen, dass es ein Kreuzpunkt, eine Schnittstelle unserer Leben war, sein Kopf, mein Stiefel.

Sonntag, 21. September 2008

Ich bin zurück, bin der Sprachlosigkeit, in die ich geraten war entkommen, habe mich aus ihr in meine Sprache zurück gewunden. In die Gefilde einer fremden Sprache zu gelangen, ist dem Ankommen in einer unbekannten Großstadt gleich. Es gibt kein Oben kein Unten, kein Rechts oder Links, man ist einem Wirrwarr aus Wegen ausgeliefert, einer Vielzahl an Fortbewegungsmöglichkeiten, und in keine getraut man sich hinein, weil man sich nicht auskennt. In welche Richtung soll man fliehen ist das Ziel eher eine Vorstellung als eine Idee?
Anfangs ist man von der Andersartigkeit befriedigt, lässt sie auf sich wirken, als streiche eine warme Hand über fröstelnde Haut und Haar. Sie ist Verzierung, diese von einem selbst unverstandene Sprache, weil sie melodisch, rhythmisch ganz eigen klingt. Das fällt auf, weil das Vertraute der eigenen Sprache das Sichtspektrum trügt. Vertrautheit ist, unerkannt, eine der schmerzfreiesten Arten des Erblindens.
Der empfundene Sprachverlust erscheint mir jetzt, da ich zurückgefunden habe, ebenso ein Zeitverlust. Unbekümmert, was Tag, Stunde oder überhaupt was Orientierung in der Zeit angeht, verging ebendiese. Unüberschaubar. Ich landete morgens, obwohl es Abend war, ich trank zu Kaffee, während die Übrigen speisten, ich ging zu Bett, brach sich der Tag aus schattigen Nachthüllen. So verging um mich herum nur das eigene Leben wirklich wahrnehmbar. Auf der Haut spürte ich die Vergänglichkeit, wie sie von mir Gebrauch machte, mich in Besitz nahm. Zeit- und atemlos blieb ich, ohne nur ein Wort nach Außen, ins Unverstehliche hinein zu richten, blieb schweigsam sterbend.

Wie einen hungrigen Hund sah ich einen Mann Mülltüten zerfetzen, Tonnen umstoßen, im weggeworfenen Rest anderer suchen. Er war auf Beutefang, seine Hände zu Krallen ausgerichtet, sein Blick animalisch und doch analysierend, genau beobachtend, was die Fangarme griffen, aus dem stinkenden Dunkel ans Tageslicht zogen. Diese zu Klauen gewordenen, fetzenden Hände. Schließe ich die Augen, sehe ich sie Menschenbilder zerreißen. Bei lebendigen Menschenleib zur Kreatur werdend.
Ich saß innenwendig und fürchtete den Schritt auf die Straßen, die belebt waren und von Innen wie überlaufene Ameisenwege schienen. Klein und viel beschäftigt kroch einer über den anderen, sich nicht aneinander, an der unausstehlichen Körpernähe störend, so dass jedes einzelne Menschenwesen mit den Übrigen zu einer zähen Masse verschwamm, die kein Durchdringen eines Fremden erlaubte. Entweder man würde mit dem fließenden Menschengeschlecht Eins werden, oder man bliebe, wo man ist. Wie Strandgut bei abklingender Flut, man bliebe Wurfgut der Ebbe, den geiernden Möwen dargereicht.

Donnerstag, 4. September 2008

Ich schweige mich durch das nächste Lied und betrachte die Übrigen die Lippen dazu bewegen. Als wären sie mit gefalteten Händen und ihren lächerlichen Lippen dem Himmel näher als sonst auf der Straße, irgendwo zwischen Nerz und Vogeldreck. Ich trage unter der Baumwolle immer ein Federkleid, man kann ja nie wissen, wann es soweit ist, wann man sich dem Wurzelwerk entziehen, aus der Erde und in die Luft hinein brechen wird. Man kann nicht wissen, wann der Übergang einsetzt, und es sind immer die Übergangsformen, die die nächste Stufe ankündigen. Jeder höhere Schritt geschieht Art übergreifend.

Die eigene Art überwindend.

Mittwoch, 3. September 2008

Dass sich in der Sprache unsere Verletzungen zum Ausdruck bringen, habe ich gelesen, oder viel mehr wurde mir vorgelesen. Ich weiß nicht, ob ich was ich höre, glauben soll oder der Unterstellung, die Ohren seien wenig vertrauenswürdig nachgebe und lächelnd abwinke.
Man hört auch, was einmal ausgesprochen ist, sei tief im Innern geheilt, zumindest in Anfängen im Heilungsprozess. So könnte ich mir Sprache als Verband, als Heil- und Wundsalbe vorstellen. Und sofort assoziiere ich mögliche Inhaltsstoffe mit der dazugehörigen Allergie, wie die Linderung tiefer schürfend Unheil stiftet.

Sprich nicht alles aus! Mahne ich mich.

Manche Menschen fahren einem wie mit einem Panzer über den Mund. Früher stand ich unfassbar wenige Sekunden still, bevor sich meine Lippen in Zuckungen wieder zu regen begannen. Heute bleibt alles brach. Irgendwann gedeiht auch kein Kraut mehr.

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Ich fürchte Zahnärzte und versuche derlei Arztbesuche zu vermeiden. Jahre kann eine solche Meidungsstrategie gut gehen. Aber am Montag stellte ich mich all meinen Ängsten, die nach Terminvereinbarungen wie wilde Meutetiere über mich herfallen. Ich habe sie alle in die Falle gelockt, mich auf den Zahnarztstuhl gesetzt und sie in der Mundhöhle vergiften lassen.

HAH!

Jedenfalls hatte ich bisher noch nie einen solchen Zahnarztbesuch erlebt. Alle nett, ich im Mittelpunkt, eher mein Gebiss. Röntgen, Reinigung, oben Abdruck, unten Abdruck, Beratung und Überweisung zum Kieferchirurgen. Niemals verbrachte ich eine Stunde in einer Arztpraxis. Fazit. Meine Ängste sind im Gift schmaler geworden, nähren sich allerdings bereits an der Aussicht auf bleibende Helle für sie, denn ihre Sonne geht, bei dem Gedanken an Weisheitszahnentfernung, strahlend auf. Sie erklimmt den Himmel und brennt leuchtend heiß, setzt Nährboden für jederlei Angstvorstellung. Strahle! Strahle! Strahle!

Gesichtschirurgie steht auf der Visitenkarte. Erstmals wird mir im Zusammenhang mit Zähnen das Gesicht bewusst. Mit verschlossenen Lippen sind die Beißapparate dem Gesicht nicht zugehörig. Wie plötzlich sich mit dem Öffnen der Schleusen die Einsicht der Ansicht ändert.

Dienstag, 2. September 2008

Dem aus Afghanistan ist die Frau nun endgültig abhanden gekommen. Ich sagte ihm, Frauen kommen abhanden, gewährt man ihnen Spielraum, möge er auch noch so klein sein. Und er hatte um sich eine ganze Spielwiese für sie ausgemessen und abgesteckt. Vielleicht nicht einmal abgesteckt, nur die überschreitbaren Grenzen angedeutet.

Nun sitzt er, der die Wüste mit ihren romantischen Sonnenuntergängen nur Dreck und Staub nennt, neben mir und sieht dem Sand so ähnlich. Feinkörnig könnte ich ihn durch meine Hände rieseln lassen, aber ich möchte keine Sandburgen zwischen meinen Beinen.
Der mit dem Waffenschein und der Schießberechtigung hockt hier und heult Rotz und Wasser. Ich überlege, ob ein Soldat im Kampf nicht bessere Figur machte, so ungern ich daran denke.

So ein Häufchen und die Waffe stakst oben wie ein Appell, hier einnehmbar, heraus.

Samstag, 30. August 2008

Meinem Onkel, dem Helden mit dem Puzzleschädel ist abermals das Gesicht aufgeklappt. Stahlträger sind nicht seine Stärke. Frontaler Zusammenstoß und schon klaffte die Narbe über dem Nasenbein hinaus über die Brauen im Offenen. Als hätte ihn jemand zur Ausgrabungsstätte erwählt, lagen alle Knochen frei. Fein säuberlich beinah, wäre die Sauerei mit dem Blut nicht.

Ich liege längst nicht mehr auf den Dächern, lauere nur dem Gestank auf, der durch die Ritzen und Brüche im Mauerwerk auf die Straße hinaus tritt. Große fette Füße in ledernen Stiefeln. So stelle ich mir den Gestank nach verwestem Fleisch vor. Fettleibig und schwerfüßig. Die Kleineren unter den Wölfen werden reißfest.

Man trifft sich im Invalidenhof. Mein Vater mit dem zerschossenen Bauch, mein Onkel mit der Ausgrabungsstätte im Gesicht, die anhängende Familie mit diesen fremdeigenen Blicken. Ich bin nicht zielsicher, deswegen bin ich am Hof vorüber und geradeaus weiter gelaufen, habe die einen und die anderen links liegen, hinter mich geraten lassen. Alles Vergangene, gerät hinter einen, oder man selbst gelangt darüber hinweg, hinaus. Man rückt sich selbst in Ferne. Mit allem und jedem geschieht etwas, so auch mit mir. Ich gerate hinein in das Familiensystem und hinaus. Finde keinen Halt, um zu bleiben, keinen Ort, keine Stelle. Alles greift ineinander, nur ich greife daneben und pendle haltlos weiter.

Man meint, in der Ferne hat man allen Grund das Nahe zu umgehen, man meint, allem Nahen entkommen zu sein. Doch das ist nur Trug, denn in Wahrheit ist kein Entkommen möglich, außer man geriete aus sich selbst, aus der eigenen Haut, aus dem eigenen Sein, dem inneren Hier und Jetzt. Man müsste in der Lage sein, sich seiner selbst fern zu kommen. Das mag an die Erzählungen und Berichte erinnern, die behaupten, Menschen seien in bestimmten Situationen aus sich selbst gekehrt, betrachteten das Geschehen um ihren Körper wie aus der Höhe, von Oben herab, als wäre der Körper allein weniger wert. Doch auch das ist Blendwerk, denn schneidet man mit einem Messer unter die Haut, sind sie alle noch dort. Ganz nah am eigenen Herzen. Schließlich ist es zumeist das, dem die Menschen zu entkommen suchen. Den Herzkammern mit ihren Schrecken und Finsternissen.

Mittwoch, 27. August 2008

Ich fliehe mich von einem Moment in den nächsten, in ganz leiser Hoffnung, die Gedanken beschäftigt, ihnen keinen Freiraum zum Driften gewährt zu haben. Denn wenn sie es täten, sie kämen abhanden, und abhanden gekommene Gedanken treiben einen, wie Wölfe vor einem her, treiben einem Irrsinn und Emotion durch den Leib. Man geriet in Tränen, in Ausbrüche, in Unhaltbares.

Und dann irgendeiner. Der wirft die Angel mit den Widerhaken, reißt und holt ein.

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Randfiguren. In einem Buch stelle ich mir kleine Strichzeichnungen, wie ich sie früher in Schulhefte und auf Tische malte, vor. Dicht an den Rand, fast von der Seite, aus dem Buch hinaus gedrängt, knapp vor dem Abgrund, vor dem Sturz in die äußere Wirklichkeit. Ich habe keine Vorstellung, weder von der inneren noch von der äußeren Wirklichkeit sowie den Überlebenschancen in jener oder anderer, noch von der Lebenswut solcher Randbeispiele.

Dabei spielt sich, so eine Floskel, das Leben jederseits auf Messers Schneide ab. Und zeige mir einer eine schärfere Kante, einen feiner linierten Rand.

Wohin also stoßen wir, springen wir von Messers Schneide?

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Jeder Grundschritt lässt sich in eine Promenade öffnen. Man flaniert in vorgeschriebener Schrittfolge und gewinnt plötzlich, ohne großes Zutun an Eleganz. Die Feinheiten schleichen sich ein, geben dem Körper ein neues Maß an Haltung, der Mimik entlocken sie versteckte Mittel zu unbekanntem Ausdruck.

Beim Tanzen geriet man in innere Randgebiete. Öffnet man den Körper dem anderen, gibt man sich der Führung hin, gestattet man die Führung überhaupt. Wagt man, der Folgenden mit Kraft und Schritt den Weg vorweg zu nehmen, erlaubt man das Anlehnen an die eigene Bestimmtheit. Zwischen den Tanzenden besteht eine halb durchlässige Membran, an der ungesehen der Informationsfluss fließt. Und erstarrt dieser, erstarrt das tanzende Paar.


Ende der Schrittfolge. Absprung von Messers Schneide.

Dienstag, 26. August 2008

Eine ungreifbare Leere. Und das, weil ich als Letzte, als Zurückgelassene den Laden verlassen habe. Einen so einsamen Augenblick habe ich selten erlebt. Oder auch bewusst empfunden. So wie es ist. Das Zurückgelassenwerden.

Zwei U-Bahnen fuhren mir weg, weil ich aus dem Empfinden nicht schnell heraus und der Bahn hinterher kam. Es war unmöglich mich schnell zu bewegen. Als hieße Einsamkeit immer auch Atemstillstand. Stillstand überhaupt. Stummheit ist auch nur eine Starre des Redeflusses. Alles, was in einem fließt, erstarrt.

>Irgendwie ist er wie ein Fisch<

Den Satz habe ich gelesen und fand ihn so passend, zum im Buch beschriebenen Mann, aber auch zur Situation, die sich um mich herum bot. Ich weiß nicht zu sagen, weshalb ich es so sah. Aber diese eine Aussage bestätigte in diesem Moment einfach alles.

Stromlinienförmig. Vielleicht das. Ja.

Fische, die in Schwärmen schwimmen werden mit einer Sehne, an der mehrere Haken ködern geangelt. Man zieht die Fangschnur durch das Wasser, durch den silberfeinen Fischschwarm, reißt die puren Haken durch Flossen, Kiemen, Rachen und zieht einen nach dem anderen an der Schnur heraus. Ich stelle mir vor, wie eine solche unsichtbare Sehne vom Himmel greift und durch die beladene Einkaufstraße spannt, wie sich die Widerhaken in Arme, Beine, in einen Rumpf hinein bis in die Herzen reißen. Und dann, dann hole ich die Leine von der Kirchturmspitze her ein. Einen nach dem Anderen.

Auch die, die mich zurücklassen.

Samstag, 23. August 2008

Nachtschwärmer und andere Insekten

Im Haus wohnen neben Kauzen noch Nachtschwärmer, die sich gegen Sonnenuntergang in Richtung jeglicher Lichtkegel bewegen. Sie überdauern den Tag, um sich nachts an künstlichen Quellen zu berauschen. Ich habe Einen Nachtblut verlieren sehen. Es war am Briefkasten, da sah ich den ersten Tropfen und folgte der Spur durch das Treppenhaus. Dass ich um diese Uhrzeit noch unterwegs war, hatte ich dem unglücklichen Umstand, meine Schlüssel verloren zu haben, zu verdanken. So stand ich also vor verriegelter Türe und wusste nicht, wie ich herein, noch wie ich aus dieser Situation herauskommen sollte. Die Treppe bot sich mir als Gelegenheit auf Nachbarschaftshilfe zu hoffen. Gut gehofft, wie ich jetzt sagen würde, gut gehofft ist wie schlecht verloren. Man grämt sich. Und als mich der Gram schon längst überschwemmt hatte, kehrte ich, auf den frühen Wurm wartend, zu den Briefkästen. Wie lange hatte ich keine Post mehr erhalten. Und wenn ich herausfände, wer täglich meine Briefe las und einsteckte, würde sich das Schauspiel aus der Tragödie zur Komödie wenden. So dachte ich. Und dann sah ich das Nachtblut. Tropfen für Tropen, lief ich Stufe um Stufe gesenkten Kopfes, den Blick am Boden festklebend. Es war anders, nicht rot und zäh, es schien beinah durchsichtig und gläsern. Nein, gallertartig, so als könne man mit dem Finger hineindrücken, die Form verändern, doch sobald man den Finger zurück zöge, geriet es wieder in dieselbe Form. Ich wagte nicht, auch nur einen Hauch von mir selbst mit diesem Zeug in Berührung zu bringen. Alles schien, wie uns auch das Zeitvergehen als Lebensdauer erscheint. Man dreht an der Uhr, und gelangt doch immer wieder an denselben Punkt der Ewigkeit, an die Gegenwart. Diesen einen winzig kleinen Fleck im Raum. Anderswo wäre es wohl nicht auszuhalten. Ist es das, was uns die Einschränkung beteuern möchte? Die Möglichkeit zwischen Hier- und Jenseits?

Stufe um Stufe war ich nun ungesehen in die obersten Stockwerke gelangt. Ich schaute, sah nichts, nur das Nachtblut, das den Boden verschmierte und auf welches hier Oben jemand Zeitung verteilt hatte, wohl im Glauben, das Papier sauge auf. Stattdessen aber sah es aus, als wäre etwas in der Lache verschieden. Überschwemmt. Ich stob mit dem Fuß den Nachrichtensumpf auf, wollte nachsehen, ob sich darunter etwas verbarg. Doch es tat sich nichts, nur ein Surren drang von irgendwo her. Nachtschwärmer, dachte ich, geraten immer an die Falschen.

Ums Leben kommen. Das klingt nach einer Erleichterung, als könne man sich glücklich schätzen, um die Herausforderung LEBEN herum gekommen zu sein. Das klingt wunderbar in Anbetracht der Schrecken, die das Leben birgt. Und wenn wir uns im unbestimmten Kosmos um das Leben bewerben, betonen wir sicherlich – das alles ist unbegründete und reine Spekulation – unsere Tendenz zur Herausforderung. Wir möchten uns den immer nächsten Schritten stellen. Kontaktfreundlich, eloquent, selbstständig arbeitend, Herausforderung liebend. Schlagworte, die wie die Faust auf das untrügliche Auge passen.

Soundsoviele Menschen sind bei dem Unglück ums Leben gekommen.

Sie alle wollten, müssen nun jedoch die Aufgabe nicht mehr bewältigen. Schreck Ade !

Mittwoch, 20. August 2008

Es ist lange nach der Zeit. Der Sommer ist weiter gezogen und nur selten Sommerliches hängt ihm nach. Alles andere ist unverändert. Die Ideen über Sprache finde ich allerorts bestätigt, was mich einerseits freut, andererseits beschämt, weil ich mein Anrecht auf Urheberschaft abzulegen habe. Als hätte ich es für möglich gehalten, dass wortaffine Menschen nicht schon längst Selbiges detaildichter durchdacht und kundgetan haben.

Worin ist die eigene Klugheit, von Dummheit kann bei keinem Menschen die Rede sein, worin also ist die eigene Klugheit von der Anderer zu unterscheiden? Von der angewandten Kunst sie an Ort und Stelle in Gebrauch zu nehmen, sie offen zu legen oder tief im Verborgenen zu halten? Nur darin unterscheidet sich die individuelle Handhabung, die Anwendung nicht aber die Klugheit selbst. Ausgebreitet in Zeit und Raum ist es doch wenig verwunderlich, dass ein Kopf eher auf die Lösung einer Gleichung stößt als der andere. Es bedeutet nicht, dass der zweite Kopf weniger klug ist, sondern dass er sich anders durch Raum und Zeit bewegt, seine Klugheit anders ausdehnt. Ob dies jeweils zu seinem Vor- oder Nachteil geschieht, sei hier unbetrachtet.

Nimmt man das Leben, damit meine ich den Organismus Mensch, unter eine biochemische Lupe, ist es wie ein Blick durch ein Kaleidoskop. Man erkennt Formen und Farben, Anziehung und Abstoßung, man sieht ein in sich funktionierendes Zellwirrwarr, ein unbegreifliches System und sollte vom wissenschaftlichen Blick des Zaubers beraubt sein. Stattdessen glotzt man fasziniert auf das, was man nicht versteht und dreht das Glas, um das Unverstandene noch ungreifbarer zu machen.


Rückblick in den Juli

Das Leben zwischen den Leben ist ein anderes geworden. Seit Tagen streunen Stunden durch die Zeit, die weder zu mir, noch zu sonst einem mir vertrauten Menschen zu gehören scheinen. Zeit hat keinen Umfang. Eine Stunde ist jede Stunde dasselbe Maß an Minutenschlägen. Die Zeit an sich aber ist maßlos.

Über die Dächer schleicht dunkles Grau. Der Regen hat es über die Stadt getragen. Die mich umgebenden Dächer verschlingen lebende Tauben und geben sie nicht mehr frei, höchstens ein Mensch kehrt einen Kadaver nach Wochen aus den Dachstuben. Ich habe Vogelvieh sterben sehen. Die Dächer sind nah, sind unabdingbar nah.

Kleine Wölfe streunen durch die Stadt. Sie reißen Tauben und werden lüstern. Sie tanzen und jedes Bein hat dem dazugehörigen einen Schritt voraus zu setzen. Wölfe tanzen vierbeinig und wenn sie reißen, dann beißen sie vollzähnig ins Fleisch eines Lebendigen.

Mein Onkel, einer von einigen, aber der einzige, den ich mag, ist mit der Leiter gestürzt und mit dem Kopf auf einem Stahlträger gelandet. Die Leiter auf ihm. Der Strahlträger hat seinen Hinterkopf, die Leiter sein Gesicht zertrümmert. Darüber mag ich nicht nachdenken, denn Nachdenken hat etwas mit Vorstellung, und Vorstellung mit Bildmachung zu tun. Ich stelle mir die Zertrümmerung vor, und wie aus dem Stahlträger eine Metallplatte wird, die Stirn und Wangenknochen ersetzt. „You make me cry and put me down“

In der Nacht, wenn sie in Scharen durch die dunklen Straßen ziehen, heulen die Wölfe. Ich bin gerufen worden, wie man einen Menschen um Hilfe ruft. Mit dem Gewehr im Rücken schleiche ich über das Grau der Dächer und versuche unsichtbar für die gelbgrünen Wolfsaugen zu sein. Sie sind glatt rasiert. Um die Augen, um die Brust, um die Schwanzspitze.

Unverwandt sind unsere Sprachen. Die der Wölfe und jene, in der man mich gerufen hat. In dieser Sprache der Furcht, diese Sprache, der ein Klageton eingebrannt immer voraus ist. Noch bevor die Münder sich formen, klingt ein Ton wie Herzweh aus ihnen hervor. Die Wölfe, und auch die kleinen dagegen, sprechen ohne Zögern, ohne Angst, ohne Zweifel. Sie schreien und heulen alles Verlangen aus sich heraus. Sie scheren sich nicht um die Ohren, an die ihre Sprache dringt. Sie scheren sich nicht um anderes Wohl oder Unwohl. In Ansätzen bin ich mit dieser unverwandten Sprache aufgewachsen. Ich verstehe das Heulen der kleinen wie der großen Wölfe. Und deswegen bin ich auf der Jagd, bin ihnen auf den vierbeinigen Fersen, bin hinterher.

Meinem Onkel haben sie bei örtlicher Betäubung das Gesicht aufgeklappt, um die zersplitterten Knochen gegen Metallplatten auszutauschen. Gänzlich konnten sie ihn nicht betäuben, denn Sauerstoff war in sein Gehirn gelangt. Das Risiko, er würde nicht mehr aufwachen zu groß. Risikoscheue Ärzteschaft. Er hat von der Operation erzählt, weil er dabei war, bewusst anwesend. Unter dem Skalpell bei lebendigen Leib offenen Auges. Damit ist er für mich zum Helden geworden. Mein Onkel mit dem zertrümmerten Schädel, mit Metall statt Knochen im Gesicht, unter der Haut, wo sonst kaum einer hinschaut. Wie sie ihn aufgeschnitten, die Haut, die Knochensplitter beiseite und ihn wieder zusammengesetzt haben. Das stelle ich mir vor, abends, wenn ich die Augen schließe, morgens, wenn ich sie öffne. Den Puzzleschädel.

Wenn man einen von ihnen trifft, bleibt er der Meute zurück und man kommt ihm näher als bis auf die Fersen, man geriet plötzlich aus der Verfolgerdistanz in Beißnähe. Man erreicht jene Gefahr, welche den angeschossenen Wolf selbst schon längst erreicht hat. Lebensnot.

Ich liege mit dem Rücken zum Dach. Über mir Vögel und ich sehe sie wie Fliegen durch mein Sichtfeld gleiten, stelle mir vor, ich liege bäuchlings auf dem Eis und beobachte Fische durch milchiges Glas. Es ist kalt geworden. Außerhalb. Warm spüre ich den Blutfluss in mir, wie er treibt und fortschwemmt. Alles aus dem Herzen hinaus.

Den angeschossenen Wolf habe ich mir über die Schulter gespannt und später dann eingekerkert. Er liegt unter dem Dach und lässt nichts von sich hören. Er schläft oder stirbt. Kaum einer gibt beim Sterben einen Ton von sich. Weder Mensch noch Wolf. Alle schön still, als würde der Tod sie so nicht finden. Als fiele er nach dem Gehör über einen her. Dabei krepieren die Stillen. Nur die Lauten bleiben verschont. Zu denen, die brüllen, kommt keiner.

Samstag, 16. August 2008

Über den Dächern hängt der Morgen. Ich bewege mich in kaum merklichen Schritten durch das schlafende Haus. Ich bin dem auf den Fersen, der eine Freude daran hat, unsere Namen zu zerstören. Tag für Tag das gleiche Spiel. Ich gestalte die Klingel, den Briefkasten mit Identität und Zugehörigkeit, ein anderer, der, dem ich durch die Morgenstille hinterher bin, zerkratzt, zerreißt und zerstört diese. Mutwillig. Ein solcher Mensch ist mir bisher nicht unterkommen. Den Ärger darüber habe ich vor einiger Zeit verloren. Mit der Kraft ist er abhanden gekommen, ich bin geduldig und zeichne Tag für Tag schönere, beständigere Identitäten. Regen- und Reißfeste.

Ich werfe mir verbale Masturbation vor. In aller Ernsthaftigkeit, in aller nicht vorhandenen Strenge beginnt jeder Tag mit dieser Befangenheit. Weshalb sollte ich Gegenspieler in meinem Sprachraum dulden, müsste ich nicht jede Minute fürchten, dass ich mit meinen eigenen Worten geschlagen werde? Wobei mir diese Frage das Bild eines Schachbretts vor Augen führt. Die Sprache im koordinierten System gäbe eine interessante Installation. Die Tölpelworte als agierende Bauern an erster Front. Die sparsameren Silben, die bedeutungsschweren verschanzt im hinteren, im letzteren sicheren Eck. Usw.

Die Sonne beginnt wie der Mond ebenso rechts von mir ihren Weltenbummel. Ich beneide sie um ihre Ausgeglichenheit. Ich teste beinah jeden Morgen einen anderen Weg zur Arbeit. Ich schlendere.

Zurück zur Sprache. Wenn es im Sprachkörper Abwehrzellen gäbe (Antikörper, weiße Blutzellen), würden ganze Landstriche von Epidemien wie Umgangs- oder Jugendsprache verschont bleiben, Unworte im Keim erstickt und Sprachfehler ausradiert.

Ob es gut wäre? Was weiß ich. Das ist keine Frage von Gut und Böse, es ist viel mehr eine Frage der Vielfalt, der Möglichkeiten. Der Erschöpfung.

Verbaler Masturbationsvoyeurismus. Voyeurismus ist nicht richtig. Freizügigkeit, Erregung öffentlichen Interesses. Ich schreibe mit dem Wissen, hier liest jemand. Der Gedanke, ob aus Interesse an der Person oder an den Worten gelesen wird, steht aus. Was denkt der Schreibende über den Lesenden, was andersherum?

Leben Schreibender und Leser in einer Art Symbiose? Das wäre gut. Parasitismus? Das wäre auch gut, für den einen, weniger für den anderen.

Mittwoch, 13. August 2008

Die Straße zieht sich durch die Stadt, wie sich alles durch die Stadt zieht. Das Leben, das Altern, das Sterben. Wobei mir das Sterben der Stadt engster Verwandter zu sein scheint. In ihrer Unbegreiflichkeit sind sie einander so ähnlich, unverwechselbar würde ich nicht sagen. Trotz tobenden Lebens herrscht Anonymität vor. Im Leben die des Todes und in der Stadt die jedes Einzelnen. Wir begegnen dem Sterben wie den Nachbarn beinah täglich, aber wir wissen nichts über sie. Und fast sind wir froh darüber, weil wir mit untergehen. In der Masse, im Leben und darüber hinaus.

Vor dem Haus tunneln sie die Straße. Ich schaue wie unterirrdisch Leben entsteht. Wenn ich nachts ruhig liege, höre ich den Herzschlag dessen, was unter dem Haus ins Leben drängt. Ich stelle mir die schmale Asphaltschicht vor, wie sie vom zu groß gewordenen Leib abbröselt. Etwas schält sich aus der Tiefe. Ich aber bleibe liegen und halte die Augen geschlossen.
T., denke ich, er hat sich mit den Übrigen zusammen getan, sie graben sich aus, schälen sich aus der Erde, in die wir sie wie in Wasser hinein geworfen haben.

Kann Freundschaft über das Erträgliche hinausgehen? Und wenn ja, ist es dann noch Freundschaft? Was versprechen sich die Menschen voneinander, wenn sie meinen, Freunde zu sein.

Ich ertrage kaum mehr als zwei Menschen um mich. Gemeinschaft frisst an mir wie eine Made am grünen Blatt. Wenn sie fett und zur Wandlung in Höheres bereit ist, ist von mir nur das Grundgerüst, die Notverzweigung übrig. Meine Augen leuchten schwaches Grün.

Notausgang.

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Sag, siehst du auch den Mond rechts von dir stehen?

Sonntag, 10. August 2008

Regen zieht über die Stadt und jetzt, da ich in den Dächern wohne, spüre ich den Regen bevor er auf den Boden trifft. Ich fühle ihn schon knapp hinter den Wolken. Nur die Kirchturmspitze ist mir Höhen voraus. Bevor der Regen kommt, senken die Vögel ihren Flug, als hätten sie Angst, die ersten zu sein.

Jetzt schlagen die Kirchturmglocken, als wüssten sie von mir und wollten mir beteuern, dass sie immer die Ersteren sein werden. Aber meine Ungläubigkeit hält mich ab vom Geläut der Sirenen.

Frauen gehen immer, sagte ich und meine es so. So, wie ich Vogelvieh habe sterben sehen, sah ich Frauen gehen. Sie kommen und sind bereits beim Bleiben schon in den Anfängen der Folgeschritte. Dem aus Afghanistan habe ich vom Bleiben und Gehen der Frauen erzählt. Und wie ich versucht war, von beinah Allem zu berichten, wurde mir bewusst, was ich tat. Ich streute mein Leben in das anderer. Als ließe sich meine unbewaffnete Seele in seine den Kampf erfahrene übersetzen.

Ich komme nicht mehr zurück, bin völlig aus mir selbst geraten. Alles, was das Leben anbelangt.

Jetzt spüre ich eine Ernsthaftigkeit auf meinem Gesicht, in meinem Kopf, wie sie einen manchmal überkommt, wie sie mir so vertraut ist, die ich aber so lange schon vermisste. Diese angenehme Art in keine Mimik zu verfallen, in keinen Gedankenfluss. Eine Starre, wie sie der Frohsinn nicht kennt, in der man ruhen und geistig sesshaft werden möchte. Beinah nirgends als in mir selbst, finde ich derart zur Ruhe. Eine riskante Ruhe, denn sie ist nur Millimeter von einer besonderen Traurigkeit enfernt.

Samstag, 9. August 2008

Bin von der ewig schlechten auf die immer gute Seite, habe über Nacht das Ufer gewechselt, mit Sack und Pack eine Überfahrt und Landung gestartet. Nun fließt die Zeit aus anderer Richtung und den Fluss erreiche ich kaum noch. Über die Häuser, über die Dächer wie Vögel hinweg. So höchstens noch. Ich lerne vogelperspektivisch zu denken, das heißt, alles rückt in Ferne und damit in ausgedehnte Kleinigkeit.
Heute sagte eine zu mir, bei so vielen Büchern täte es ihr leid um jeden Buchstaben. Ich schwieg, weil an mir auch die Sprache leidet. Wie ich sie mit jedem Wort gebrauche und abnutze.
Über die Schwelle der Ferne kannst du nicht treten. So wie kein Mann eine Frau über eine Schwelle zu tragen schafft, die nicht seine angetraute ist. Das sind kosmische Gesetze, sagst du und rümpfst die Nase. Eine Bewegung, die nichts aussagt, die zufällig in deinem Gesicht stattfindet, weil dort noch ein Freiraum ist. Ich springe über jede Hürde, ob sie fällt oder mich zu Boden reißt, das Spannenste ist der Moment des Absprungs, der nichts über die Landung verrät. Das leise Kribbeln, die strotzende Kraft, die wilde Hoffnung und Entschlossenheit. Ich bin so oft zu Boden gerissen. Du würdest es niedergeschlagen nennen.

Ich aber hüte mich vor deinen Worten.

Die Stadt habe mich verändert, sagst du wie ein Kind quängelt, wenn es keine Geduld mehr aufbringt und die Mutter aus dem Gespräch mit einer Freundin reißt. Du jammerst und bemerkst dich selbst kaum, deine Unerträglichkeit. Wie du an mir zerrst und mäkelst. Zerstreust.

Vor Jahren wärest du mit keiner Frau gegangen. Du hättest mich am Handgelenk gegriffen, zu dir gezogen und hättest deine unergründliche Nase gerümpft. Als könnte eine Frau dich nicht tragen. Über eine Schwelle, meine ich. So hättest du dich aufgeführt und mich mit deinen Anstalten an dich gekettet. Dabei ging ich immer, mit jeder.

Das Geschlecht macht dir die Ferne aus. Das gibst du nicht zu, weil du den Selbstbetrug fürchtest. Niemals habe ich dir eine Furcht angemerkt, ein ängstliches Zögern. Ich staunte über deinen Mut, dein Herz so offen zu tragen. Deine Augen, deinen Mund, deine Ohren. Alles ließ ich, wie du es tatest. Die Ferne zu mir war dir unüberwindbar.

Ich aber hüte mich vor dem Überwindbaren. Ich reiße lieber zu Boden. Die Hürde, mich selbst. Das Leben, wenn es sein muss. Reiße es in tausend und mehr Stücke, in Einzelheiten. Und weil du über die Ferne nicht kommst, liege ich mir selbst zwischen den Beinen, und irgendwann nah am Herzen.

Das, was ich dir als Ferne bedeute, habe ich längst abgelegt.
Ich lasse dich reden, weil mit deiner Stimme auch immer etwas Lebendiges in den Raum tritt. Ich entfernte mich unserer Vergangenheit während du scheinbar noch in ihr weilst, wie in ständiger Gegenwart. Wir beginnen vom Wetter zu reden. Während du das Jetzt und Hier betrachtest, schaue ich schon, was es Morgen geben wird. Und du beginnst französisch zu sprechen und ziehst damit eine weitere Ferne in unsere unumkehrbare Vertrautheit. Du weißt um meine Sprachunfähigkeit und das Gefühl, das in mir aufwühlt, wenn du mich mit Worten in die Fremde führst. In die Irre, wie ich es empfinde.

Menschen sterben, während ich so furchtbar am Leben bin. Ich sage das und warte dein Schweigen, was kein Ende findet, ab. So begegnen wir uns. Die Stille reicht über das Geschlecht, über die Ferne hinweg. Vielleicht, wenn wir immer so schweigsam wären.

Du erinnerst den, der in Afghanistan war. Er war hier in all seiner Männlichkeit. Und so verwundbar. Frauen gehen, sage ich ihm, obwohl er es nicht hören möchte. Nicht so ausgesprochen. Sie gehen immer, selbst wenn sie wiederkommen, sind sie längst gegangen.
Ich stelle mir dein Leben als Worte vor, und du sagst, woraus wir uns denn sonst zusammensetzen, wenn nicht aus den Worten.

Und wie du im Regen Regenwürmer rettest.

Ich habe Angst vor dem Wirkichen, weil es unabwendbar ist.

Mittwoch, 2. Juli 2008

Alles, was uns voneinander abhält ist unumgänglich. Die Freundschaft, die uns anfangs wie ein kleiner, unbegreifbarer Schachzug vorkam, erst durch sie sind wir einander so nah gekommen, dass alles außerhalb unserer Nähe unwahr scheint.

Du fragst mich, was ich mitnehmen würde, müsste ich augenblicklich das Land verlassen, und ich denke ohne Umschweife an dich, sage aber, eine Zahnbürste. Das ist die ehrlichste Antwort, denn ich habe Angst vor Zahnärzten und noch mehr, vor Ärzten, deren Sprache ich nicht verstehe. Vor einer Sprache, in der ich meiner Furcht keinen Ausdruck verleihen könnte. Womit ich dich rechtfertigen, mit welcher Angst ich deine Mitnahme begründen könnte, will mir nicht einfallen. Dass es keine Angst sein muss, daran denke ich, gestehe es mir aber nicht zu.

Du meinst, du würdest deine Mutter mitnehmen, doch ich weiß, es ist nicht deine Mutter, sondern du denkst ebenso an deine Sprache. An deine Heimat, die dir mit jedem Wort über die Zunge kommt. Du würdest nicht deine Mutter mitnehmen, sondern nur deine Sprache. Deine Mutter ist zu ungelenk. Sie würde in keinen Koffer, keine Kiste passen, und du wärest nicht bereit, mit ihr an deiner Seite zu reisen. Denn da würde dir die Sprache schwer fallen, neben deiner Mutter hättest du keine Worte. Wenn du reist, sprichst du nicht. Du bist nicht imstande, zwei Dinge gleichzeitig zu tun, also zu reisen und zu sprechen. Entweder du reist oder du sprichst.

Vielleicht ist es nicht wichtig, was man mitnehmen würde, müsse man außer Landes. Wichtig ist vermutlich, was man behält, bleibt man an Ort und Stelle, am selben Punkt des Lebens, an dem man sich gerade im Augenblick der Fragestellung befindet.

Was also behalte ich?

Freitag, 27. Juni 2008

Ich feiere Abschied. Ob von der Stadt oder vom Leben ist noch ungewiss. Ich greife mir an die Brust, fühle hinter dem weichen Kern einen Herzschlag schwellen, nicht anders, aber um eine deutliche Zeit langsamer. Als lägen die Ortschaften um die Stadt mit einer Geschwindigkeitsklausel begrenzt.

Ich nehme Abschied von den offenen Kaffeehäusern und dem Weltrausch, den die dort ausliegenden Zeitungen ausstrahlen, den Menschen, denen man nirgends sonst, als in diesen Kaffeehäusern begegnet. Jenen, die sich die hinfällige Zeit mit Kaffee und Tabak vertreiben. Mit H. trank ich meinen ersten Kaffee. H. war der alternden Zeit weit voraus. Seine Haut, die einst rötlich gewesen sein musste, war blassblau. Anfangs dachte ich, das muss ein Zeichen adligen Blaubluts sein, bis ich später die traurige Fahlheit begriff.

Ich verabschiede mich vom Klick-Klack der Ampelschaltung. Lag ich nachts wach, lauschte ich diesem Geräusch, als lauschte ich meinem Herzschlag, bis ich es nicht mehr aushielt und aufstand. Ein kaum auszuhaltender Rhythmus. Ich stand auf, nahm den Hammer aus der untersten Schublade meines Nachtschrankes und trat im Nachthemd auf die Straße. Überzeugt, von niemandem gesehen zu werden, schlug ich zu. Gelb zersprang das Plastikgehäuse, zerschoss in tausend Splitter. Das Klick-Klack änderte nicht den Klang, wurde anfangs schnell, dann ruhiger, dann wieder schnell.

Ich verabschiede mich von all dem Unterirdischen: den U-Bahn-Schächten, den Wartehalle, den Straßenuntertunnelungen. Dieser Welt unter der Stadt. Die Frage, wie lange das schmale Gerüst des Obenaufgebauten noch standhalten wird, werde ich behalten. Als ein Andenken, vielleicht als Erinnerung.

Ich verabschiede mich vom Detail verschluckenden Getümmel, diesen Menschenanhäufungen an den touristischen Laufpunkten, an den Haltestellen, den Eingängen der Supermärkte. Nirgends war ich unauffälliger als im Gedränge.

Ich verabschiede mich von der Sprache, die in der Stadt viel feingliedriger ist als auf dem Land. Die Derbheit ist ihr hier ausgetrieben worden, sie kann Ecken und Nischen besetzen, die das Land nicht bietet. Die Landsprache ist grob und geradlinig, ist ehrlich. Während man der Stadtsprache in ihrer Vielheit die falschen Facetten nicht unbedingt anmerkt, bewahrt sie ihren seidig schmalen Klang. Sie schmückt die derbe Wahrheit aus.

Ich verabschiede mich von einer Landschaft aus Hoch und Tief. Diese Beton- und inzwischen immer mehr zu Glasriesen gewordenen Bauten, den Schluchten, die sie reißen. Asphalt unter den Füßen. Dieses Gefühl von harter, schmelzender Wärme, wenn ich sommers ohne Schuhe lief und die anschließende Schrubberei, die Schwärze von der Sohle zu lösen. So schwarze Füße, die allerorts auf den weißen Böden Abdrücke hinterließen.

Das ist ein Anfang, sagt A.. Der große, schüchterne A., der beim Trinken die rechte Hand um die Tasse schließt und mit der linken die erlahmte Lippe stützt. Ich habe ihn in dieser hilflos wirkenden Geste gesehen. Wie er trinkt, so schreibt er auch. Die eine Hand immer die führende unterstützend. Die führende Hand, die ohne die Folgende außer Kontrolle gerät. A. ahnt nicht, auf welches Terrain er sich mit mir begeben hat und das ich alles aufzählen werde. Nacheinander, als sei sein Tun die unendliche Zahlenmenge und ich nur darauf bedacht, sie von Anfang bis zur Unendlichkeit nachzuzählen. Er hat sich auf mich eingelassen, daran werde ich nichts ändern. A. ist kahlschädelig. Jeder kann die Narbe sehen, wo sie ihn aufschnitten, in ihn hinein bohrten und etwas von ihm herauszogen. Er wucherte in sich selbst und alles Wuchernde musste hinaus und dabei riss auch das Eigentliche ein. Die Kontrollzentren wurden gestört. Deswegen lahmt seine Lippe, missversteht sein Ohr, blinzelt sein Auge, verliert seine Hand die Kontrolle.

Floskel, sage ich, kurz bevor es A. tatsächlich herausrutscht und er in meiner Anerkennung tief fällt. Er wird aufdringlicher. Erst schob ich es der Zeit zu, die wir miteinander verbringen. Doch inzwischen denke ich anders. Manchmal wirkt er, als lahme nicht nur seine Lippe. Dann schleicht er um mich herum, dehnt jede noch zu beiläufige Berührung ins Unermessliche. Seither bin ich derber geworden, ein wenig so, als teste ich an A. die Beschaffenheit meiner Grobheit und ob sie mir in alter Landmanier noch gegeben ist.

Ich verabschiede mich von A., diesem halbseitigen Kauz, der wild flattert und taumelt, wenn er ein Glas zuviel getrunken hat. Dann führt seine linke Hand nicht nur der rechten Kontrolle zu, sondern leistet auch unterhalb der Gürtellinie Hilfestellung. Dort kraust sich sein Haar und A. strahlte mich an und sagte, dort könnten Jungvögel nisten. Mir war nicht nach einem Lächeln, deswegen erwiderte ich, dass Fuchsbauten schönere Nistplätze seien.

Ich verabschiede mich vom Fuchs. Der Fuchs hatte krauses und schutzloses Haar. Auf seinen Armen beugt es sich auf und schmerzt, berührt man es in Gegenrichtung. Ich habe den Fuchs wegen seiner Haare weinen gesehen. Mein Fuchs ist ein seltsamer Mensch, und er wollte nie, dass ich ihn Fuchs nenne. Aber er ist nur untertage und hat so rotes Haar. Er spricht kaum, deswegen wird es ein leiser Abschied.

Sonntag, 8. Juni 2008

„Was sind das für Leute?“, plärrt es mir aus Lautsprechern links und rechtsseitig ins Ohr. Und mit jeder weiteren Aufzählung fühle ich mich angesprochen. Die Leute. Das bin ich.

Dabei dachte ich gerade an deine Beine. Diese nicht ausreichend langen Beine. Nicht ausreichend um auf ihnen über das Meer, über Land und Feld zu balancieren. Dachte an dieses Bein, das sich bei jedem folgenden Tanzschritt zwischen meine drängt. Und doch niemals genügen wird können. Mir, die ich dich rückwärts durch Ort und Zeit führe. Im Takt zu bleiben, ist meine ganze Bemühung.

Mit neunzehn folgte ich Beinen. Da drängte ich meines zwischen andere, um die Richtung, Schrittlänge und das Ausmaß zu erspüren. Man weißt nicht wohin man treibt, wenn man sich im Folgen aufgibt. Und wenn der eigene Schritt tief in die Berührung einging mit dem fremden Bein, erkannte man – viel zu spät – die Falscheinschätzung. Das Missgespür vom Raum und Zeit.

„Kleine Wölfe brauchen Kämpfe.“, schwärmt eine Stimme. Von Kopf bis Fuß unbehaart und doch so männlich, das Geräusch.

Jetzt, wenn dein Bein sich zwischen mich drückt, und der höchst mögliche Punkt deines Schritts mich streift, weiß ich um deine Verwirrung. Ich führe dich in für dich ausmaßlose Schrittfolgen. Ich vertraue auf dein Folgen.

„Die Lust kommt“, lese ich. Von Robert Gernhardt. „Als dann die Lust kam, war ich nicht bereit.“ Das soll mir nicht geschehen. Und geschah. Unzählige Mal schon. Mitten im Takt überrascht von der Lust traten wir uns auf die Füße. Du mir, ich dir und dann erst fiel sie mir auf. Die Unzulänglichkeit deiner Beine.

Vor. Vor. Wiegeschritt. Seitstell. Ran.

„Und trotzdem möchte ich bitte lieber nicht bleiben.“, schallst du mir links- und rechtsseitig ins Ohr.

Dienstag, 3. Juni 2008



bin mit hundert Häuten gestrafft
Hundert Lein- und Leuchtwände
könnt ich aus mir spannen

Mittwoch, 28. Mai 2008

Die Blätter tuscheln, als könnte ich ihr Geflüster nicht verstehen. Sie reden vom Regen, weil sie ihn vor dem Eintreffen schon spüren. In den Adern, diesen winzigen Wasserläufen unter ihrer Haut. Ich denke an M., die immer sagte, sie spüre den Regen in der Narbe. Ich stellte mir vor, wie es unter ihrer verknoteten Haut erst kitzelte, dann prickelte und schließlich, wie es dort hart einschlug wie Hagelkorn. Aber jetzt tuscheln die Blätter zwischen den Zweigen über mir. T. sagt, er könne nicht über das Gras laufen, ohne es zu zertreten. Ich weiß, sage ich, pass trotzdem auf.

Durch die dichtdrängende Luft ist kaum ein Vorwärtskommen. Beim Atmen habe ich das Gefühl, Wasser zu schlucken. So viel schwerer als Luft, als die frische Bergluft, oder die Meerbrise. Die muss man nicht schlucken, die rutscht wie von selbst hinunter und hinein, plustert die Lungen wie einen Ballon auf. Deswegen glaubt man, wenn man am Meer oder auf einem Berg steht, man würde jeden Moment abheben. Einige ordnen dieses Empfinden dem Glück unter. Aber ich weiß, dass es die Luft ist.

T. macht große aber sachte Schritte. Seine Füße fabrizieren leise Geräusche beim Absetzen und wieder Anheben. Als hielten sie Zwiesprache mit dem, was sie jeden Augenblick zertreten oder dem, was sich langsam wieder aufrichtet, sobald sie das Körpergewicht aufstemmen. Sein Gesicht ist starr vor Konzentration. T. kann nicht zwei Dinge gleichzeitig. Er kann nicht reden und laufen. Entweder er spricht, oder er läuft. Beides zusammen funktioniert nicht. Ich hatte gesehen, wie er es versuchte, und dabei stolperte, hinfiel. Oder wie er ging und unverständliches Zeug vor sich herstammelte, mit den Händen immer wieder auf seinen Mund schlug um die Worte nach seinem Willen zu formen. T. weiß nicht, dass ich es weiß. Und ich spreche nicht mit ihm, während er läuft, geht, schwimmt oder sonst etwas.

Meine Augen seien Schießscharten, hatte T. einmal gesagt. Wir standen still und ich lauschte den Wellen, während T. sprach. Er hatte mich von der Seite betrachtet und sich wahrscheinlich vorgestellt, in den Winkeln meiner Augen Gewehrläufe auszumachen. Dann hatte er es gesagt und ich blieb still. Weil die Luft so leicht und das Abheben so kurz bevor stand. Doch dann hatte T. meine Hand genommen und gemeint, ich müsse keine Angst haben, seine Haut sei kugelsicher. Ich wollte lachen, aber meine aufgeplusterten Lungen ließen mich leicht abheben, und ich fühlte keinen Boden mehr unter den Füßen.

Das war eine Zeit.

Und jetzt laufen wir. Laufen davon wie gejagte Hunde. Wenn die Zeit uns einholt, sage ich, dann geht es nicht mehr weiter. T. lächelt, er hat nicht verstanden, was das bedeutet. Er kann nicht gleichzeitig auf der Flucht und in Gedanken sein. Über uns verstummt das Rascheln, ich sehe die Blätter ihre Silberseite nach Außen schlagen. Das ist das Zeichen, das den Gewittereinbruch kundtut. Die Zeit, schreit T. und stolpert, zerknittert das Gras über seine gesamte Körperlänge. Komm, wir lassen es nicht zu, steh auf, schreie ich und spüre die ersten Hagelkörner einschlagen. Sie ist uns auf den Fersen, kriecht mir die Waden hinauf. Ich kann sie kaum abschütteln. Ich blicke mich um, suche T.. Aber die Zeit hat ihn überrollt, als er dalag und nicht aufstand, weil er nicht zwei Dinge gleichzeitig kann. T. kann nicht aufstehen und parallel dazu auf mich hören. Ich renne und die Blätter über mir fangen den Regen ab.

Sie hat uns eingeholt. Die Zeit. T. ist vor mir auf der Strecke geblieben. Ich dachte daran, ihn aus meinen Schiessscharten heraus zu erschießen. So dass er es nicht mehr spüren würde. Aber die Gewehrläufe und seine Haut.

Ich renne und denke an M. und ihre Heckenschützenaugen, die hinter den schmalen Brauen ständig in Habachtstellung und auf Lauer liegen. Sie hat T. auf dem Gewissen, wie sie auch an H´s. Verschwinden Schuld trägt. M. ist ein Mordkommando, eine Sondereinsatztruppe. Für sie war ich immer schon das Krisengebiet, um das herum es Grenzen abzustecken galt. Wenn mein Leben eine Landschaft ist, hat M. sie geprägt. Sie hat Schluchten und Schützengräben hinterlassen. Rodungen, Verwüstung. Ein Katastrophengebiet. Es kam die Zeit, da konnte ich nur noch den Notstand ausrufen. Ich brachte T. mit mir in andere Gefilde, in sichere Abstände zu M´s. Abwehr- und Angriffsflächen.

T. ist auf der Strecke geblieben. H. war an vorderster Front gefallen. Er hielt es nicht aus, hielt diese Existenz zwischen Leben und Tod nicht mehr aus, hielt nicht länger fest am Leben.

Niemand, den ich kenne, ist nicht in den Hinterhalt der Heckenschützen getreten. Und zumindest ins Straucheln, ins Schwanken und aus der Schussrichtung der Lauffeuer geraten. Hinaus aus dem Krisengebiet, hinter die Absperrung.

Dienstag, 27. Mai 2008

T. und ich. Das ist wie ein eingeschworenes Team. (Wer über Phrasen stolpert, sollte einmal barfuss über Rasen gehen.) In jeden meiner Gedanken bettet er sich. Es scheint unmöglich, ist es aber nicht. T. hier. T. dort. Und ich kann ihn verstehen, schließlich existiert er nirgends sonst. Über den Rand meiner Kopfwelt hinaus, besteht kein T.

Vielen Büchern voran geht ein Zitat aus Klassikern. Ich würde einen Satz von Tschechow voranstellen. Oder aber einen, aus einem neu erschienenen Buch. Alles Große kann ja nicht schon gesagt sein. Sonst wäre die Arbeit eines jeden Schreibenden nur so dahin. Phrasendrescherei. Eben.

Es ist interessant, wie das Wort Inhalt formt. Darbietet. Und wie sich ein einzelner Inhalt in einer Fülle von Subtanz hält, wandelt. Ausdrückt. Ist das nicht die Absicht der Literatur? Herauszufinden, welches Wort mit welchem reagiert. Und vor allem: Was durch jede willkürliche Zusammensetzung entsteht?!

Aber das hat man längst vor mir erkannt. Nicht umsonst beginnt die Germanistik, Literatur- und Sprachwissenschaft mit der Verformelung einer Aussage. Aber hier möchte ich mich nicht verzetteln, denn den Unterschied oder die Gemeinsamkeit zwischen Sprache und dem geschriebenen Wort ausfindig zu machen sowie zu erläutern, ist ein größeres Unterfangen. Dazu müsste ich die Arme weit über den Kopf reißen, so dass Schaufelhände mich unterfassen könnten.

Wohin also?

T. und ich. Ausgangsschritt.

Heute Morgen ging mir eine Idee nicht abhanden. Trotz Erschöpfung und Schlafschwierigkeiten, dachte ich unentwegt daran, einen Text nach einer Tanzschrittfolge zu gestalten. Maßgeblich wäre Lesetempo, -rhythmus und Aussage bzw. erzählendes Element. In einen Tango ließe sich keine Langsamer-Walzer-Geschichte kleiden. Und erst recht nicht ausdrücken. Denke ich.


11:34

Sonntag, 25. Mai 2008

Fox-Trott: Slow. Slow. Quick. Quick. Slow. Slow. Quick. Quick.

Cha Cha Cha: Slow. Slow. Cha Cha Cha. Slow. Slow. Cha Cha Cha.

Rumba: Quick. Quick. Slow. Quick. Quick. Slow

Tanzen. Dabei folge ich blind. Gehorche Lautrufen nach pawlowschen Gesetzen. Lasse mich konditionieren in freudiger Erwartung der Belohnung. Irgendwann folgt niemand mehr der Stimme, sondern die Musik wird zum auslösenden Reiz. Die Gruppe beginnt sich zielgerichtet nach gemäßer Schrittfolge im Kreis zu bewegen. Diagonal durch den Raum. Nur so gelingt der Tanz.

Slow. Slow. Quick. Quick. Slow. Slow. …..

Der erste Quickschritt wird im 45° Winkel gesetzt, sodass ein Zick-Zack-Schritt-Muster entsteht. Das funktioniert. Ich habe es nicht glauben wollen. Doch dann gelang die gesamte Gruppe in das vorgesehene Muster und aus der Ferne mochte die Bewegung etwas von einer Welle haben.

Gruppendynamik. Tanzen ist ein Mannschaftssport. Eleganz und Grazie sind in diesen Anfängen zu suchen. Die Ästhetik fehlt. N o c h !

Ich hoffe, auch diese an einem Sonntagabend in der Bewegungsverzierung zu entdecken.

Bisher ein Straucheln nach Ansage. Alles Tanzen.

Freitag, 23. Mai 2008

Fuß-über-Kopf

Schleife mit den Armen über den für Beine bestimmten Boden, als wollte ich auf Händen stehen lernen. Dabei liegt mir nichts ferner, als kopflastig standfest zu werden. Schließlich bedeutete das eine Verankerung. Wobei ich mir nicht einbilde, in Raum und Zeit gänzlich unverankert zu sein. Nur die Beine, der Körper bis hin zum Hals gelten dem Kopf als eine Art Leine. So dass er nicht in jeder Beziehung frei, aber doch im bestimmten Maß eine Freiheit ausübt. Eine Voliere für den Geist. Einen Spielraum für Denkakrobatik bietet dieser Abstand. Und wenn man betrachtet, dass wir mit der Zeit wachsen, folglich an Freiheit dazu gewinnen bis hin zu diesem genetisch festgesetzten Maß an Körperlänge. Wenn man diesen Umstand, oder wohl mehr dieses schicksalhafte Glück, näher betrachtet, wird man zu einer Ansicht gelangen, die kaum als Erkenntnis gelten kann. Denn man wird feststellen, dass kein Mensch über eben dieses für ihn vorgesehene Maß hinauslangt, dass aber doch der eine an kürzerer, der andere an längerer Leine hängt. Nur dies führt zu keiner Verwunderung. Einzig, die Bemerkung muss gestattet sein, dass ein Hund an langer Leine gehalten, nicht weniger oder mehr bissig ist, als anderer an kurzer Leine. Die Akrobatik wird durch höhere Luftsprünge und waghalsige Drahtseilakte zwar interessanter, aber die Körperfiguren behalten den Schwierigkeitsgrad bei. Die Freiheit in die Höhe hinaus bietet nicht tausendfach mehr Möglichkeiten. Denn Kopf und Fuß bleiben in immer gleiche Distanz zueinander.

Mittwoch, 21. Mai 2008

- poe(m)try-

-

Zum Zeitlosen hin

aus der ganzen Zeit
die sich um ein Leben herum anhäuft
kralle ich mir wenige Stunden
Anhäufungen
von Minuten nur
nicht gebrauchter Sekunden

schnalle sie mir auf
oder auch um
um davon
um einfach fortwärts
oder weiterwärts

zum Bleiben hin
zu kommen

-

Wie zum Gebet kniest du und meinst: Rühr mich an! Ich falte und fächere die Hände, will dich greifen und verstehe in meiner ungöttlichen Sprache nur: Zieh mich aus!

Du schweigst, weil Nacktheit ähnlich wie Stille ein besonderes Maß an Intensität verlangt. Ausnahmslose Aufmerksamkeit. Also richte ich jeden meiner Sinne ausschließlich auf dich. Dressiere und züchtige mein Tasten, Schmecken, Riechen, Hören. Sehen. Weil die Augen ja doch anderes wollen, als die Finger. Ich komme gegen das Fühlen nicht an, sagst du, und meinst doch, gegen die Lust nicht anzukommen.

Ich faltete, wenn ich könnte, dir die Welt vor Füßen. Breitete sie aus wie einen flaumlosen Teppich und ließe dich. Was immer du auch wolltest, ließe ich.

Letztlich läge der Teppich – ja, die ganze Welt unten und fühlte sich betreten. Von deinen Fußtritten. Deinem Fingerspitzengefühl. Deiner Absatzmanschette.

Halt mir doch etwas vor, sage ich in ungöttlicher Manier. Halte mir etwas vor und ich schaue hinein. In dich, in ein Glas aus Milch, in einen Spiegel. In das ganze Abbild der Grausamkeiten.

Diätenerhöhungen
Stammzellen – “Retter-Geschwister“
Ausländerjagd
Champions League

Tagesausschnitte.

Rühr mich an!

Und ich greife hinein, vorbei an deiner stattlichen Brust, deinem biegsamen Rückgrat, deinen Schleuderrippen. Greife hinein und gerate nadelfein an Abgründen vorbei.

Und dann.

R ü h r e - i c h - d i c h - a n !

Dienstag, 20. Mai 2008

- poe(m)try -

.

Nordwind. Eine Ortung, als hielte man den kurz noch angeleckten Finger in die Luft, sich vom eigenen Stand der Dinge überzeugt zu machen. Der Nordwind flieht über den Finger fort, nach Süden hin ausgerichtet und hinterlässt sich selbst nur als Abdruck von Kühle.

Wie tastbar ist ein Abgrund? Wie weit kann man sich kopfüber hinab lassen, um mit ausgestreckten Fingerspitzen das Abgründige zu befühlen? Nur so hängen, kopfüber, nicht weiter, nicht mit den Füßen hinab um einen Stand zu finden. Dort. Tieferwärts.

Ich gestalte meinen Sprachraum nach meinem Belieben. Grammatik die Wände; Rechtschreibung, die an den Wänden kleisternde Tapete; das Mobiliar eine Zusammenstellung an Satz- und Schriftzeichen.

Usw.

.

Bin seit Tagen nicht mehr die Gleiche.
Bin ohne mit der Wimper zu zucken,
ohne Vorschlaghammer
gegen andere Meinung,
bin ganz ohne mich.

Und seit Tagen trage ich Nachthemden.
Trage sie obenauf und darunter
nackte Haut. Nacktes und krauses Haar.
Immer dort und versteckt. Kaum auffindbar
nach jedem dieser Kahlschläge.

Die Stadt liegt, lässt sich einkreisen
von Ringstraßen, macht keine Anstalten
wie ihre Bewohner.
Die mit Gewehren wie Geigen im Anschlag umher treiben.
Tausend tote Tauben habe ich gezählt.
Habe sie alle in die Hand genommen,
sie gebrüht und gerupft,
sie den Federn entleibt.
Was will die Stadt mit so viel Vogelvieh.
Und wohin soll ich
mit den fleischlosen Knochen, den Gerippen.

Tausend tote Taubentorsi.

Die Männer noch auf der Jagd.
Ich kann sie hören und rufe nicht.
Weil man nach streunenden Hunden nicht ruft.
Sondern nur wartet, wartet an Ort und Stelle
bis sie zu einem kommen.
Kommen und dafür belobigt werden.
Stets mit Speichel in den Mundwinkeln,
kommen und mit Zähnen nehmen,
was sie wollen, was sie erwarten,
was man schon in der Hand haltend hinreicht.

Sich selbst. Die Nacktheit. Das krause Haar.

Den äußeren und dazu den inneren Kahlschlag.
Und nachdem sie gekommen sind,
bleibt man zurück. Nur zu denen,
die brüllen kommen die Hunde nicht wieder.

.

Die äußere Erscheinung macht es.

Freitag, 9. Mai 2008

Er zieht sehnsüchtige Menschen an. Wie ein alter Mann sitzt der dahin treibende Fluss mit seinen Sonnenuntergängen, seinem Rauschen und seiner lahmenden Schifffahrt an immer gleicher Stelle und lockt und streut, damit sich die Sehnsüchtigen um ihn scharren. Ich sammelte Krümel von einer Stimmung, die einem nur am Meer begegnet. Hortete sie in meinem Innern, als würde mit dem morgigen Tag eine Not an Eindrücken einbrechen. Wohin kehrte ich mich, sollte Morgen nichts Sehnsüchtiges mehr in mir sein?

F. ist ein seit Langem Vermisster. Jeden Tag begegne ich ihm, aber niemals gingen unsere Gespräche über das Übliche hinaus. Niemals einen Umweg, auf dem man an andere, unbekannte Ziele gelangt. F. macht eine Ausbildung in dem Beruf, in dem ich längst berufen bin. Und wohin driften die Worte, die wir miteinander wechseln. Er ist kein Freund, er ist ein Mensch, dem ich über den Weg laufe. Wir wissen voneinander das, was wir jeweils des Weges tragen. Er saß dort, wohin ich wollte, so dass wir zusammen kamen, als wären wir verabredet. Und ich begann mir das Gefühl einer Verabredung vorzustellen. Doch ich stieß zu rasch an die Realität, als hinter uns eine Frau auftauchte, die ihm die Arme um den Hals legte und küsste. Ich trank, was F. schon lange vorher getrunken hatte. Ich sah es in seinen Augen. Diese leichte Schräge, in der er war. Die Küssende nahm neben uns Platz, sie war kleiner und ihre Augen stachen hellblau aus dem dunkel umrandeten Gesicht hervor. Ich mochte diese Augen, dieses Unausweichliche. Der kurze, rote Rock erlaubte einen langen Blick auf ihre kurzen Beine und ich fragte mich, auf welche Weise sie sich die Haare entferne. Die roten Höfe auf der blassen Haut verrieten sie. F. ist glücklich, dachte ich als ich ihn so sah und sie neben ihm. Was mag ihre Sehnsucht sein, welche Krumen wollten sie sammeln, überlegte ich und trank von dem, wovon F. bereits deutlich mehr getrunken hatte.

Ich lese und kann mir die Partituren nicht erklären, weil ich nie etwas von Partituren gehört oder gelesen habe. Aber ich sehe ihre schlanken Finger über das Schwarz-Weiß gleiten, sehe sie wie Möwen über Wogen fliegen und höre das schwere Atmen wie ein Brausen. Das Orchester wird zum Meer, und ich darin zu einer Ertrinkenden.

F. und seine Küssende habe ich hinter mir gelassen. Bin mit den Sehnsüchtigeren flussaufwärts gegangen, immer ferner dem Spektakel, welches die Sonne Abend für Abend verrichtet. Darin verlieren sich nur die Verträumten. Irgendwärts dem Quell nähern sich die Sehnsüchte dem Ursprung.

Donnerstag, 8. Mai 2008

Vor unseren Fenstern welkt ein Baum. Jemand hat ihn gewaltsam an die Laterne gekettet. Dort steht er einem armen, geknickten Trunkenbold gleich, der nicht mehr weiß, in welcher Richtung sein Weg liegt. Es ist Mai und die Menschen strömen wie fließend Wasser durch die Straßen. Schillernd und Hindernisse mit sich reißend.

Unsere Fensterbänke sind gelb vom Blütenstaub. Kinder machen sich einen Spaß, wenn sie mit den Fingerspitzen: Putz Mich! hineinschreiben. Demonstrativ schaue ich darüber hinweg, soweit die verklärten Scheiben es zulassen. Selbst die Hausverwaltung meinte, mich schriftlich auf den Missstand der Fensterfronten hinweisen zu müssen. Auch darüber schaue hinweg. Mit nebulös formulierten Umständen habe ich mich noch nie eingehender befasst.

Es ist Mai. Die Sonne brennt Pigmentierungen. Ich stelle mir die äußersten Enden der Sonnenstrahlen vor, wie sie mir nadelfein die Farbe unter die Haut zwängen. Ich beobachte die Flecken, besonders jene, die größer, tiefer, dunkler werden.

Hautbild-ung.

Alles Herzinnere ist Untertage. Und alles Handhaben darin ist Untertagebau. Wohin gräbt also einer, der schachtet und schachtet und nicht mehr zurück ans Tageslicht gelangt?

>> …; denn es ist eine Freude zu spüren, wie Kälte im Herzen aufsteigt, und sich sagen zu können, während man es prüfend mit der Hand berührt wie einen noch rauchenden Herd: Es brennt nicht mehr.<<

Gustave Flaubert -November-

Montag, 5. Mai 2008

Leerzeichen, sagte eine, benutze sie nicht.

Das ist mir im Ohr geblieben. Ich weiß nicht mehr, wo und wann ich es hörte. Aber ich weiß, dass es eine Frau war, die das sagte. Und zum ersten Mal dachte ich darüber nach, was Leerzeichen eigentlich sind. Ein Paradox. Ein nicht erkennbares Zeichen. Wobei. Doch erkennbar, durch das Weglassen allen Füllstoffs. Diese Stimme, die von irgendwoher klang, werde ich im Kopf behalten. An einem Fleck irgendwo im Gedächtnis, an einem Platz, der umgehend geräumt wurde. Wie ein leerer, ein unbesetzter Stuhl wird dieser Flecken jetzt für lange Zeit belegt sein. Ein Zuschauersaal, so stelle ich mir das Erinnern vor, aus dem hin und wieder einer aufsteht und geht, einfach verschwindet, und der leere Platz bleibt zurück, als hätte niemals darauf jemand gesessen. Und ebenso kommen andere, die sich nur kurz umschauen und dann bleiben. Für eine Weile oder auch länger. Einige überwintern, während ich, also mein ICH, auf der Bühne stehe und hinab schaue, immer diesem Spotlight hinterher, der durch die Zuschauerreihen streift und die Bewegung, wie manchmal auch die Ruhe verfolgt. Manch einer war schon im Saal, bevor ich überhaupt erst auf die Bühne stieg, bevor ich überhaupt begriff, meinen Blick als Leuchtpunkt zu nutzen. Und mancher, so macht es den Anschein, wird ewig bleiben. Ewigliches. Wenn es zuviel wird und Unruhe im Zuschauerraum eintritt, dann setze ich alle Hebel in Gang und lösche das Licht. Stockdustere Finsternis und nur ich auf der Bühne, leicht oberhalb der Sitzreihen. Dann wird es still und mir ist, als hielte ich die Augen geschlossen. Leerzeichen rücken Abstand zwischen die Füllzeichen und erst mit dieser Fehlstelle rückt Sinn in Sichthöhe.

Mein Gedächtnis ist porös. Häufig sehe ich mich an der Erkenntnis leiden, Vieles nicht mehr zu wissen. Das ist nicht das Übliche. Nein, darüber geht es längst hinaus. Und vielleicht ist es so, muss so sein, weil es ein natürlicher Fluss ist. Hohe Konzentration gleicht sich zur niedrigen Konzentration hin aus oder auch umgekehrt. Alles in meinem Kopf Vorkommende, driftet aus ihm heraus, weil ringsum nichts ist, was diesem Fließen Einhalt bietet.


Freitag, 2. Mai 2008

Jeden Tag nehme ich für Herrn V. aus den oberen Stockwerken ein Päckchen entgegen. Hat Glück, der Herr V. Ich weiß nicht, was er empfängt, aber wenn er später klingeln wird, wird er mir danken und ich werde sagen, dass es mir nichts ausmache und er Glück habe, dass ich immer zu Hause bin, sonst müsse er abends, wenn er kommt noch einmal hinaus und zum Paketschalter. Der ist am Bahnhof. Eine Station, die auf Knopfdruck das richtige Türchen öffnet.

Ich habe zurückgeschaut. Da war es anders. T. stürzt aus dem Fenster, L. schaut ihm nach und M. interessiert sich einen Scheißdreck dafür. So ist das, und ich gerate in einen fortwährenden Überschlag. Eine Art Looping, den man bei einer Achterbahn auch Inversion nennt. Kommt eben immer auf Namen, Rang und Gruppe an. Jede Dazugehörigkeit lässt sich irgendwie betiteln. Und ich hänge fest. Unabsichtlich. Dabei gerät doch alles in Wiederholung. Selbst der Herzschlag ist eine ewige Aneinanderreihung, nur eine Abfolge gleicher Wiederkehr. Das Fortdauern der immer gleichen Schlagkraft. So, wie diese Kontraktion plötzlich begann, wird sie irgendwann, in unbestimmter Zeit enden. Wiederholungsstopp!

Das Glück oder auch das Unglück ist alles andere als geduldig. Es kann nicht abwarten, greift zu, wenn ihm danach ist, trifft ein, wenn keiner damit rechnet. Wie unerwartete Gäste sind diese Zustände. Immer mit der Tür ins Haus und nur nicht von längerer Bleibezeit überzeugen oder bloß nicht hinauskomplimentieren lassen.

Manchmal bleibt jedes für sich aus. Kein Glück, kein Unglück weit und breit. Eine abwechslungsarme Landschaft die ganze Zeit. Und so plätschert sie nicht trüb nicht untrüb dahin und man badet nur die Füße darin, denn mit dem Alltäglichen bleibt man lieber in standfester Absicht. Nackte Füße finden allemal den Boden, anders als gänzlich nackte Leiber. Sie tänzeln in Aufruhr nur so dahin, sich irgendwo zu verbergen.


Auf der anderen Seite werden Kranhäuser gebaut. Wenn ich mich hier mit meiner Decke ausbreiten möchte, muss ich mit den Augen einen Rahmen abstecken, um nicht unmittelbar Hundescheiße zu erwischen. Aber man erwischt sie immer. Vielleicht nicht mittig, eher nur so am Rand, dass die Füße oder der Ellenbogen daran Anstoß nimmt. Ratten erwische ich auch immer wieder, nur die will dann keiner gesehen haben. Das ist zu anderen Zeiten. Auf ihren Streifzügen berühren sie meine Füße. J. sagte, ich solle ihr nicht mit Ratten kommen. Nachdem sie in Irland ein von Mäusen bewohntes Zimmer bezogen hatte, erlebte sie Tiefgründiges. Seither seien die Nager und Kriecher ihr nicht geheuer. Sie hatte Bissspuren und konnte die anfangs nicht erklären, bis dann die Mäuserei aufgeflogen war. Also erzählte ich J. nicht länger von den Ratten, obwohl die mich nie beißen. Außer mir liegt allerhand MUndrat am Fluss.

Jedenfalls. Auf der anderen Seite wird der Hafen zu einer Promenade mit Wohnanlagen umgebaut. Anlage klingt immer nach Klärungsbedarf. Die über zwei Kilometer lange Flussstrecke ist betoniert und zugleich ramponiert. Nur zehn Bäume. Und das nennen sie Grünanlage. Aber die Häuser der Zukunft bieten Dachgärten. Wie schön. Stell sich einer mal vor, ein anderer geht in den Garten und kommt nicht wieder. Vor dem Haus wird Getümmel laut, ein Blaulicht fährt vor. Während unten alle schauen, geht man nach Oben, geht auf das Dach, in den Garten und sucht noch den anderen.

Die alten Stapelhäuser sind abgerissen. Bei einigen Gebäuden hat man versucht, die äußere Fassade zu erhalten. Aber was ist Fassade denn mehr als ein Augenschein? Und Glas. Beinah alle Wände sind aus Glas. Mehrstöckige Petrischalen.

Hier wird dem Ufer eine Mauer entlang gezogen. Hochwasserschutz wird gesagt. Aber ich glaube, sie wollen die Ufer noch deutlicher voneinander trennen. Der Fluss ist derzeit zu gut zu überqueren. Unkontrolliert. Demnächst wird das Ufer nur noch an den Fährenanlegstellen betretbar sein, denn dort erleidet die Mauer Durchbrüche. Andererseits wurde das Hafengelände um zwei Meter angehoben. Damit die Kranhausbewohner keine Hochwasserschäden in den Tiefgaragen befürchten müssen.

Alles schön so. Ich kratze mir die Hundescheiße von der Sohle und betrachte die Brücke, wie sie von Einem aufs Andere greift.

Donnerstag, 24. April 2008

Internationales Frauenfilmfestival. Eröffnungsfilm am 23.04.2008. Kein Eintritt für normal Sterbliche. Auch nicht Frauen. Die Hälfte der Plätze war für die Presse reserviert, die übrigen Sitze für Organisation und Filmcrew. Warteliste. Sagte mir eine ins Gesicht und lachte, als hätte sie mit ihrer Mundfeuerwaffe ins Schwarze getroffen. Da stand mein Name nun und wartete, ob ihm nach Filmbeginn doch noch Einlass gewährt werden würde.

Also ließ ich meinen Namen dort auf einer Liste zurück, ließ ihn warten und ging ins 7. Eine Bar, dem Kino, dem Trubel um Rang und Namen nicht fern. Einen Longdrink. Um die Wartezeit zu überdauern. Etwas, woran ich länger trinken wollte.

S. war ihrem Namen treu und in unmittelbarer Nähe geblieben. Sie hielt dem Warten stand. Ich war gespannt, ob sie noch kommen würde, oder ob ihr Name es wirklich von der Liste in die ersten Ränge geschafft hätte. Da kam sie auch schon!

Der Barmann würfelte mit denen, die an der Bar saßen. Sonst saßen nur wir. Die wenig Übrigen standen am Ausgang, als wären sie hier nur zum Durchatmen gewesen, nur ein kurzer Zwischenstopp zwischen den Fluchtschritten.

Hin und wieder ein Jubeln, die Würfel fielen gut. S. sah müde aus, Sie arbeitet seit Jahren tagein, tagaus. Und dann gewährt man ihrem Namen nur einen Platz auf der Warteliste, keinen Sitz im Kinosaal. Keinen Blick auf den Film, der zur Eröffnung lief. Sie las Zeitung, als hätte sich dort am Abend noch etwas finden lassen, was über den Tag nicht aus allen Richtungen auf sie eindröhnte. S. trinkt Bier direkt aus der Flasche. Kein Anhalten, kein Heimischwerden in der Bar 7. Wenn Vorgestern gewesen wäre …

Um uns herum alles laut. Als ließe das abnehmende Tageslicht das Leise nicht länger zu. Die Stimmen werden lauter in der Nacht. In absoluter Dunkelheit nur noch Gebrüll. Der Barmann würfelte schlecht. Er schaute übellaunig und zeigte kein Interesse an meinem viel zu schnell geleerten Longdrinkglas. Wie es wohl meinem Namen auf der Warteliste ergangen war. Ich konnte ihn nicht mehr hören. Schall und Rauch, um sprichwörtlich zu werden, stiegen in den Himmel hinauf. Ich ging über den Fluss auf die andere Seite der Stadt. Ließ meinen Namen dort, wo er war. Vielleicht ein andern Mal …