Freitag, 3. April 2020

Ich weiß nicht wann die Zukunft sich ändern wird


Ein wenig schiebt sich mir die Angst in die Schuhe. An den Fersen scheuert sie wund. Ich sehe den Weg durch die Gänge, vorbei an tausend Betten, vorbei an tausend leeren Betten mit Gestellen und Geräten ausgerüstet. Ich gehe ohne meinen Mund oder meine Worte zu schützen, ich gehe vorüber an dieser hochgerüsteten Bettenarmee und fühle die Angst Nägel in meine Fersen schlagen.
Ich atme ein. Ich atme aus. Ich gestehe dir meinen schweren Gang, die Angst in den Schuhen, ich gestehe dir, dass ich nicht weiß, wann die Zukunft sich ändern wird. Du lachst und schlägst mir auf den Hinterkopf, als wolltest du mir einen fremden Schalk aus dem Nacken schlagen. Ich greife deinen
Arm und werde laut. Du lachst einfach weiter und windest deinen Arm aus meinem Griff. Du warst immer schon stärker als ich. Ich lasse dich lachen und gehe langsam weiter, die aufgerissene Haut an den Fersen spürend. Deine Haare zittern. Jedes einzelne Haar zittert. Die Angst, denke ich, dich hat sie bei den Haaren gefasst und wir gehen weiter, legen auf jedes einzelne Bett einen ultrasteril verpackten Einmalbezug. Einmal und dann nie wieder, denke ich. Einmal zwischen diesen Betten wandeln, einmal diese Luft aus den Maschinen atmen. Und dann nicht mehr.

Ich weiß nicht, wann und ob sich die Zukunft ändern wird.

Hinter oder über uns, ich kann es nicht genau orten, ertönt das Dauerdröhnen der Wachdrohnen, eine automatische Stimme weist uns an, den vorgeschriebenen Abstand zu halten, nicht stehen zu bleiben. Und dann die strengere Zurechtweisung: Keinen Körperkontakt! Gehen sie weiter, erledigen sie die Arbeit zügig! Das Drohnensurren wird dringlich, droht. Deine zitternden Haare streichst du dir gekonnt zwischen Gummi und Ohren, ich sehe deine schmalen Finger, dein Lächeln sehe ich hinter dem Mundschutz nicht. Ich fühle mich ungeschützt und ziehe die Atemmaske über Mund und Nase. Die Drohne begleitet uns noch einige Meter, sie surrt und spricht in kurzen Abständen. Die automatisierten Anweisungen sind keinem Geschlecht zuzuordnen. Überhaupt ist seit den Abstandsregeln die Geschlechterfrage weniger oft gestellt worden. Durch die Halle, zwischen den Gestellen und Betten schallen unsere Schritte wieder. Wir atmen, wir gehen, wir legen ultrasterile Einmalbezüge auf die wieder unbelegten Matratzen. Hinter uns rückt der Kontrolltrupp nach. Sie prüfen die Beatmungsgeräte. Für den nächsten Tag werden tausend Neuankömmlinge erwartet. Alles muss geprüft, gereinigt und vorbereitet sein. Diejenigen, die zuvor in diesen Betten lagen, sind bereits am Vortag verabschiedet worden. 

In meinen Schuhen schlägt die Angst weitere Nägel, von den Fersen arbeitet sie sich zum Mittelfuß vor. Meine Schritte sind langsam, sind schwer, schmerzen. Die Drohne schwirrt irgendwo durch die Halle, ich weiß, sie haben mich im Blick. Dort in ihrem Kontrollraum, auf ihren großen Monitoren sehen sie mich, sehen uns, wie wir gehen, wie wir arbeiten, sahen, dass ich deinen Arm griff, sahen, dass du stärker bist als ich. Vor ihnen sind wir ungeschützt. Auch außerhalb dieser Halle ist ihr Surren zu hören. Sie sehen auf ihren breitaufgestellten Monitoren wie ich esse, wie ich schlafe.

Was ich denke, sehen sie noch nicht. Aber auch das wird sich ändern. Sie brauchten nur Monate bis alle, die übrig geblieben waren, für ihr System relevant wurden. Wir wurden einfach umgeschult. Seit sechs Wochen bin ich im System als Sterbebegleiterin registriert.