Montag, 26. November 2007

Der aus Afghanistan war hier. War ohne Schnellfeuerwaffe, ohne Stiefel und Tarnung hier. Eben so, wie ein Mensch zu einem Menschen kommt. Als Mensch nur. Und ebenso saß er auf meinen Stühlen, auf meinem Sofa. Saß und aß Kuchen, trank Tee. Trank aus einer Tasse, die für seine Hände, Pranken möchte man sagen, zu klein war. Viel zu klein und vielleicht auch nicht spektakulär genug. Eine Weile dachte ich darüber nach und übersah seinen kahl rasierten Schädel, diesen Schädel, der ganz anderes gesehen hatte. Ich schaute an ihm vorüber in den immer gleichen Hinterhof, in die Einöde meines Stadtlebens.

Er erzählte vom Dreck. Überall nur Dreck, sagte er und ich wusste nicht, was er meinte. Aber er meinte die Wüste an sich. Nur dass er nicht Sand und Staub sondern Dreck sagte. Und vielleicht ist Sand und Staub nur eine romantische Vorstellung und Dreck der Ausdruck, der berechtigte Ausdruck eines Menschen, der dort gewesen ist.

Er zeigte Fotos und ich sah Wüste, sah Hügel, Dünen und später dann Berge aufragen. Wunderbare Landschaft, bestätigte er. Aber dann ein Foto von Geländewagen, die im Sand aufgereiht standen, wie Leichen auf Bahren. Fuhrparkfriedhof. Das ist bestimmt die wirtschaftliche Formulierung, dachte ich und er meinte, der erste Wagen hatte nur einen Unfall. Dann erübrigte sich jeder Kommentar. Einschusslöcher, ausgebrannt. Eine Minenlandschaft dort draußen. Der ganze Dreck also ein Risikofeld, das viel Sand und Staub aufwirbelt. Gefahrenzuschlag, so heißt es, Gefahrenzuschlag bekommen sie, wenn sie dort in die Wüste Kabel und Drähte legen, erst kleine, dann größer werdende Containerlandschaften errichten. Wenn die einheimischen Firmen das Zement legen, für einen Lohn, der hier weit unter der angestrebten Mindestlohngrenze liegt, für dortige Verhältnisse aber wohl sehr gut sein soll, wie mir der bestätigt, der dort gewesen ist, dann wird das als Hilfestellung zum Wirtschaftsaufbau betitelt. Das unterbezahlte Zementieren der Wüste.

Er aß Kuchen und ich stellte mir diese Wüste vor, wie sie vom Wandel ergriffen ist, und wie die Panzer im Sand und Staub einsinken, bis sie endlich den Nabel ihrer Wirtschaftshilfe erreichen, einen Zementstreifen mitten im Dreck. Seine Wangen lagen tief, lagen auf den Knochen und er sagte, er würde wieder gehen. Ich sagte nichts, schaute an ihm vorüber durch die dreckige Glasscheibe in den Hinterhof, in diese Landschaft meiner Inhaftierung.

Sonntag, 25. November 2007


Ent.Mündung

wohin hast du dich verloren
die letzten Dampfer
ziehen über das Meer
und ich schleiche
die Uferböschung entlang
als glaubte ich
der Fluss wäre
ein guter Führer


Samstag, 24. November 2007

Mittwoch, 21. November 2007

Sitze und stelle mir vor, er säße mir gegenüber. Dieser Mensch mit dieser bemerkenswerten gedanklichen Ausdauer. Die ist nicht zu übersehen. Höchstens von einem, der nicht hinhört, nur gaukelt und schwätzt, nur vorgibt am Gesagten, am Erdachten interessiert zu sein. Stelle mir vor, er säße hier in dieser Männlichkeitsmanier, den Rücken weit nach hinten in die Stuhllehne gedrückt, zwischen den Fingern einen dunkel gerollten Zigarillo, auf dem Kopf, beinah in der Stirn einen Hut mit mittiger Falte. Er säße und hätte die Knopfleiste des Jacketts zuvor, noch in leichter Kniebeuge geöffnet, und den Stoff unauffällig wie Flügel zur Seite geschoben. Und dann, bevor überhaupt ein Wort gewechselt würde, hätte er die Beine übereinander geschlagen, nach Männerart natürlich, nicht wie Frauen dies tun, nicht so leicht in Schräge geneigt sondern gerade das linke über das rechte Bein gestreckt. Und dann erst ginge ihm der Mund auf:

> Der Akt des Denkens und der des Wollens sind momentan. Wir können sie mehr oder weniger lange vorbereiten, aber ihre Ausführung hat keine Dauer; sie geht im Handumdrehen vor sich; es sind punktuelle Akte. […] Die Liebe dagegen dauert in der Zeit, man liebt nicht in einer Reihe von ausdehnungslosen Augenblicken, von Punkten, die aufflammen und erlöschen wie der Funke einer Induktionsmaschine, man liebt das Geliebte beständig. < (Ortega y Gasset .Über die Liebe.)

Darauf würde er schweigen, die Regungen meines Gesichtes studieren, sich den Zigarillo zwischen die Lippen legen und nach einiger Zeit erst den inhalierten Rauch entlassen. Ich derweil würde seine Worte in die Länge ziehen, sie dehnen und drehen als wäre es meine Absicht, sie zu zentrifugieren. Sie solange im Geiste zu drehen, bis sich erschließe, was gewichtig ist. Dann würde ich den Mut aufbringen und erwidern:

Ist mein ausgedehntes Denken über Ihre Worte dann ein Beweis für mein Nicht-Denken oder Nicht-Wollen? Sie müssen zugeben, ein Gedanke blitzt auf, ist für einen Moment heller als übrige, unübersehbar, doch im nächsten Augenblick ist der Geist noch immer mit diesem Gedanken, dieser Idee am Werke. Er ist beschäftigt. Demnach sind es Punkte, die die Idee legt, aber die Gedankenspur verbindet die punktuellen Akte, wird zur Linie. Der Denkakt wird dehnbar, wird beständig. Nicht für unbegrenzte Dauer, dennoch über einen Moment weit hinaus.

Er würde in seiner Männermanier die Stirn in Falten legen, mit der linken Hand das Kinn stützen und mit seiner bloßen Anwesenheit fortfahren. Nichts sagen, nur sitzen und den von mir geäußerten Gedanken betrachten. Und vielleicht würde er in diesem Augenblicken bemerken, wie ausdauernd er bei diesem Denken weilt, ihm beinah nachhängt, sinniert und kaum noch loskommt. Abermals, für Sekunden nur würde er sprechen:

Und wie denken sie über die Liebe?


Sitze in der Bahn und denke, wie schön es ist, dass die Stadt sich bewegt, an mir vorbei zieht und mich hier sitzen und denken lässt. Die Minuten zwischen hier und dort, zwischen geschäftlich und privat. Tagein, Tagaus, nur manchmal wechseln die Gesichter. Und nur an den Gesichtern lässt sich das ausmachen. Denn die Anzüge, die Krawatten, die Handschuhe, die Aktentaschen, die Lederschuhe, die Mobiltelefone, die alle bleiben unverändert. Selbst die Stimmen und Antworten, immer gleich, oder auch die Art, die Fahrkarten abzustempeln, der Dame den Platz am Fenster nicht anzubieten, oder das Gehabe, wenn einer einsteigt ohne zuvor die anderen aussteigen zu lassen.

Ich sitze jeden Tag in der hintersten Reihe, weil ich der erste bin, der einsteigt. End- und Anfangspunkt der Linie. Ich sitze mit der Zeitung, die nichts anderes macht, als täglich die Schlagzeilen zu wechseln. Mein Arm liegt angewinkelt auf dem Stück Rand zwischen Sitz und Fenster, meine Beine stehen rechtwinklig zum Boden und die Tasche liegt vor mir auf meinem Schoß. Das ist das Bild, das ich zwischen hier und dort abgebe, solange bis sich die Stadt zu meinen Ausgangspunkten bewegt hat. Dann hält für Sekunden das große Schnaufen inne und ich dränge mich aus der hintersten Reihe nach vorn, wobei nicht mehr viele Anzüge, Krawatten, Handschuhe, Aktentaschen, Lederschuhe, Mobiltelefone und Damen in der Bahn sind. Ich dränge und stoße leicht die wenigen, die vergessen auszusteigen und steige aus, bevor jemand kommt und einsteigt ohne zuvor die anderen aussteigen zu lassen.

Sonntag, 18. November 2007

Das Leben lang wird uns erklärt, man solle nicht so viel Zeit mit dem Tod verbringen, der komme schon, komme von ganz allein. Und die Gedanken an und über ihn würden das Leben weder lebenswerter noch unwerter machen. Wenn denn das Leben unseres körperlichen Daseins überdrüssig würde, würde es den Tod von selbst herbeizitieren. Ohne unser Bedenken und Zutun. Wäre es so, wie also würde das Leben dem Freitod gegenüberstehen? Würde es sich von der körperlichen Daseinsform, die wir ja sind, hintergangen und vom Geiste, der wir ebenso sind, überrumpelt fühlen?

Weshalb personifizieren wir den Tod im Sensenmann und das Leben, für das Leben nehmen wir uns das Vorrecht, es ganz in Anspruch zu nehmen. Wir selbst bedeuten für uns das Leben. Wir selbst definieren den Tod, das Eintreten der Leblosigkeit am eigenen Körper als einen Fremdakt. Einen Gewaltakt am Leben, der von Außen eintritt. Womöglich noch durch Sensenschlag oder einen Sichelhieb.

Nun denn. Gerade lief einer vor die Straßenbahn. Lief und kam selbst zum Stillstand wie auch die Bahn. Einer stirbt am Tod, der andere ist seines freien Lebens beraubt. Der Gedanke, einen Menschen des Lebens beraubt zu haben, weil man gerade selbst am Steuer der Straßenbahn saß, nimmt diesem Menschen die Lebenslust. Wessen Umstand sollen wir betrauern? Den des zu Tode Gekommenen oder den des Lebens Beschädigten?

Wir schenken dem zu Leben Kommenden ebenso viel Aufmerksamkeit, sei es gute oder weniger gute, wie dem zu Tode Kommenden. Geburts- und Sterbeurkunde. Das Zusammenkommen am Kinderbette, wie das Zueinandertreten am Grabe. Menschen gedenken im Anfang und im Ende dem Menschen gleich. Doch während der Zeit des bloßen Daseins, werden die Differenzen zwischen Leben und Tod deutlich. Der eine grübelt über das Leben, das er nicht hat, der andere denkt an den Tod, der ihn so nicht ereilen wird. Kaum einer tritt zusammen, ein jeder trägt für sich die Gedanken um Leben und Sterben. Letztendlich kommen wir doch nicht umhin uns des Todes ebenso anzunehmen wie des Lebens. Nämlich als einen Akt der eigenen körperlichen und geistigen Daseinsform.

natura morta

Betrachte sich einer mal die Welt aus meinen Sichtverhältnissen. Die Straße mit ihrem Fortfahren, der Baum mit seinem Wechsel der Jahreszeiten, der Fluss, der immerwährend in Bewegung bleibt. Sitze und leide, als hielte ich mich an dieser Aussichtsspeere wie an einer Leine. Kann nicht weiter, immer nur bis hin zur Straße, zum Baum, zum Fluss. Darüber hinaus wäre ein stückweit zuviel.

Nichts geschieht. In diesen Wänden steht die Welt still, die Zeit schlägt nicht um, und ich habe mich diesem Stillleben hingegeben. Bin hineingebettet, an die Umstände gebunden und nicht in der Lage auszubrechen, den Rahmen zu sprengen. Unausweichlich dieser Ruhestand.

Die Bahnhofshalle sei ganz aus Glas, habe ich mir sagen lassen, hat jemand gesagt, der vor meinen Fenstern stand und sprach, als könnte der Hall seiner Stimme die Stille brechen. Aber die brach nicht, war nur für Sekunden in Aufruhr und legte sich sofort wieder sorgfältig über die Landschaft. Eine Glashalle, habe ich mir vorgestellt, muss unendlich weite Aussichten bieten. Und wie die Menschen wie Tauben an- und wieder abreisen. Nicht anders als einen Taubenschlag habe ich mir diese Halle ausgemalt und auch das Treiben darin. Dann musste ich daran denken, wie einmal eine Taube, sie muss jung gewesen sein, wie sie flog, wie sie durch meine eingeschränkte Sicht glitt und Schleifen am Himmel drehte. Hin und her schien sie mir gerissen, nicht zwischen West und Ost unterscheiden zu können. Ziellos. Und wie ich ihr nachsah, merkte ich sie näher kommen. Die Taube stob durch die Luft und mir blieb kaum noch genug zum Atmen, denn ich ahnte Schlimmes kommen. So ein wirres Regen in mir, und das Umgreifen dieser Regung, wie sie aus mir herausgriff und die Zeit zwischen den Wänden berührte. Das junge Vogelvieh flog und zog Linien. Bis sie dann ganz nah war, so nah, dass sie vor dem Glas nicht mehr zum Stillstand kam. Ich rückte näher ans Fenster, sah hinten den Fluss, den Baum, die Straße, sah alles wie immer. Nur auf dem Brett vor dem Fenster, da lag die Taube, ganz grau ihr Federkleid, lag und bewegte das dumme Köpfchen, lag mit gebrochenem Flügel und sah zu mir hinauf. Die Aufregung scheuchte mich, ich lief und stieß gegen den Tisch, gegen den Stuhl, gegen die Wände. Zeit- und Raumgefühl hatte ich verloren, und ich wagte mich nicht hinaus. Also wand ich mich ab. Vom Fenster, der Taube, der Welt und ihren drohenden Geschehnissen.

Sitze in den eigenen Wänden und betrachte die Welt wie von Außen. Und wie es einem vorkommt. Dieses ewige Ziehen, Treiben, Fliehen. Als beobachte man die Wirren eines aufgescheuchten Bienenstocks.

Mittwoch, 14. November 2007




















Wer andern einen Kopf abschlägt

Reiß mir doch den Kopf ab, Salome! Was habe ich noch anderes zu verlieren. Kannst den Wünschen nicht entkommen, nicht dem heimlichen Ohrgeflüster, das dir eintönt, mich zu enthaupten. Und dann laufe, unterm Arm meinen Kopf. Kannst doch nicht ausschlagen, was ich dir auf dem Tablett darbiete.

Und jetzt, wie ich dort, wo mein Hals, mein Schultergürtel, wo ganz ich nur war, wie ich dort an jener Stelle nun kühl das Metall fühle. Und die leichte Wärme, die wie Hände meinen abgeschlagenen Kopf trägt. Als pulsierte dort, wo nichts mehr ist von mir, doch weiterhin mein Leben.

Mit meinen Armen kann ich nicht mehr greifen. Nur ein Phantom die Glieder, die nicht mehr gehorchen wollen. Denn gern würde ich deinen Kopf, Salome, würde ihn fassen und mir zuwenden, deinen Blick, den du so geschickt abkehrst, als fürchtest du meinen Anblick. Den Anblick meiner körperlosen Gestalt.


Und weißt du, was mir durch den Kopf geht, den du in Händen hältst. Wie schön es wäre, könnte ich deine Finger noch in mein Haar greifen spüren, dieses Gefühl, dass nur eine Frau in einem Mann auslöst. Aber du kennst nichts von dieser Sehnsucht. Immer hast du alles bekommen, wonach du dich gesehnt. Den Unterschied zwischen Verlangen und Befriedigung hast du nicht gekannt. Selbst jetzt noch, als dein Verlangen über Menschenleben ging, hat es sich eingestellt. Und wie leicht dieses Lächeln auf deinen Lippen sitzt, wie es dort sitzt und nicht recht zu wissen scheint, ob es ausbrechen darf. Oder ob es besser daran tut, klein, in sich, innerhalb der eignen roten Mauern zu bleiben.


Gib es zu, du hast es gewollt, hast meinen leblosen Kopf zu dir befohlen, weil du mich sonst nicht hättest haben können. Dafür bin ich entleibt worden. Für deine Wunscherfüllung. Und ich sage dir, Salome, hier in dieser unwürdigen Art als Mann vor einer Frau zu liegen, sage dir, es werden Legenden entstehen, es werden sich Geschichten erzählt werden, es wird geschrieben und gepriesen werden, was ein jeder sich beim Anblick dieser Tat erdenken mag. Nur eines nicht, ob du meinen Kopf wie eine Trophäe trägst. Inhaltsleer bleibt in Geschichten und Gemälden mein Haupt, in dem noch so viele Gedanken zucken, und hätte man nicht meinen Kopf sondern den ganzen Rest ins Bild gerückt, man würde die Muskel zucken und mich kopflos laufen sehen.


Bilder:

Bernardino Luini

Salome empfängt das Haupt Johannes des Täufers.

Salome mit dem Haupt Johannes d.Täufers



Dienstag, 13. November 2007

Da sagt einer, Weib sei Weib, sei nicht Gattin, nicht Mutter, nicht Tochter. Das Weibliche liege nur im Weibe selbst. In diesem Zustand ohne Tätigkeit. Im bloßen Sein. Während ich darüber noch denke, taste ich von Kopf bis Fuß, taste jede meiner Poren ab nach dieser Weiblichkeit. Ob sie da auch ist. Sage es nicht. Nicht laut.

Zwischen den Augen bleibt immer auch Distanz. Gewährt dort den unantastbaren Raum, während einer noch spricht, und der andere schon fühlt. Sich einfühlt. Tastet und nicht preisgibt, was er spürt.

Und wohin sollte ich schon reden. Der Raum ist kalt, weil nichts ist, woran Wärme hängen bleiben könnte. Nackt und verlassen hängt der Heizköper, hängt an der Wand unter dem Fenster, mit der Hoffnung auf bessere Aussicht. Einen Tisch, einen Stuhl, mehr habe ich nicht. Und in diese Leere hinein, erzählen sich die Geschichten. Seite für Seite schlage ich um, während ich mich in Decken mantle und den Schritten lausche, die sich einschleichen, die eindringen durch die Türspalte zum Treppenhaus. Ich muss nicht reden. Der, der dort spricht, benutzt mich, dringt zu mir durch meine Stimme. Wie es sich windet, dieses Wort in meinem Hals, und wie ich beinah versucht bin zu hüsteln, so gekünstelt, als wollte mir etwas nicht recht passen. Ich lese und lese mich fest.

Vor den Fenstern fangen die Kegel unter den Laternen Licht, und erleuchten die Straßen in bemessenen Abschnitten. Es fröstelt, wie Glanz legt sich alles Kalte. Legt sich auf die Straße, auf die Häuser, auf jedes Dach, jeden Baum, legt sich in die Mulde vor der untersten Stufe, auf die Gesichter der Menschen, die umherstreifen. Und die aussehen, als seien sie auf der Flucht. Bei diesem Gedanken, das Besinnen auf den eigenen Fluchtkörper mit dieser Stromlinienform, ausgerichtet nach möglichen Fluchtpunkten.

Ich taste noch und fühle nicht, aber das sage ich nicht laut.

Sonntag, 11. November 2007

Die Alte. Sitzt in der Bahn, als säße sie hinter Gittern. Zwischen meinen Beinen ein Rinnsal, wie es sich einen Weg bahnt. Prescht nach vorn, zieht sich zurück. Das ist der Fahrtakt. Alle sind so hin und her geworfen, sind zwischen Zukunft und Vergangenheit hin und her gerissen. Und an jeder Haltestelle die nackte Gegenwart. Das Schweigen der letzten U-Bahn, der Bier-, der Uringestank. Die Alte vor mir, die guckt und guckt gar nicht mehr weg. Stiert aus dem Fenster, als sähe sie dort etwas. Oder einen Ort, eine Zeit, wohin sie möchte und nicht kann. Kommt nicht los von ihrer Haut. Alter Stierkasten.

Und das Gesicht. Das möchte man nicht grimmig sehen. Die reine Hässlichkeit. Auch jetzt noch, wo es so einen leisen Eindruck hinterlässt. Leise, aber gewaltsam. Wenn alles so gewaltsam leise wäre. Der Kopf sieht gemäht aus. Uneben. Weder lang noch kurz. Die Haare stehen irgendwie zu Berge, und an anderer Stelle reißen sie Täler. Schluchten. Das zieht vom Haar ins Gesicht. Diese Landschaft. Wer sich da hineinwagt, geht verloren. Das sieht man, sieht es von ganz fern. Aber so nah.


Mittwoch, 7. November 2007

Die Stadt liegt noch in der Stille des Morgens. Das Nachtlärmen ist ausgestanden. Und der Tag mit seinen Geräuschen ist kaum angebrochen. Er dauert, dauert über Jahre. Wir werden nicht älter und die Zeit teilt sich in Laute. Türenknallen, Toilettenspülung, Radio, Motorenstarten, Ampelklicken, Hupen, Rufe, Gleisansagen, Zeitungsknistern, Flüstern und Tuscheln, Möwengekreisch. Überall ein Tönen, jeder Zeigerschlag, manchmal auch überlappend, klangübergreifend, hier und dort. Sekundenabschlag.

Aber jetzt ist noch dieses stille Dunkel, was keine Nacht mehr ist. Man hört den Fluss, wie er treu in seinem Bett bleibt, fließt. Unmerklich beinah. Sein Vorankommen. Man lauscht in die Ferne und muss sich den Stillstand der Zeit eingestehen. Nirgends mehr ein Laut. Und der Fluss so leise. Nur ein Rauschen, als hielte man ein Kissen an das Ohr gepresst, nur das Rauschen des eigenen Blutlaufs.

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Es ist schon eine Schande, dass wir jetzt so alt werden, sagte eine, geschminkt und hundertjährig. Sie suchte in einem Buch nach einem Satz, einem guten Satz, der das Älterwerden als etwas Glanzvolles darstellt. Die Bovenschen mit ihrem essayistischen Werk ist zu umfangreich, sie bräuchte es gleich und sofort, so viel Zeit bliebe ihr nicht. Sie müsse noch heute zum Geburtstag, zu diesem Herrn älteren Semesters. Dabei würde sie gar nicht wollen, es sei doch schließlich schon eine Schande. Und überhaupt, sagte ich, schließlich seien wir kein Ersatzteillager und können nicht ihre schlechten Ansichten über das Alter, das eigene obenhin, in bessere Aussichten stellen. Vor allem, nach der langen Zeit. Und sie suche ja nur einen Satz, ein Fragment, einen aus dem Sinn gerissenen Teil. Und wir hier, und ich mit den wenigen Jahren ...




Montag, 5. November 2007

Fahre mit dem Rad und werde das Gefühl nicht los, die Stadt liegt in jeder Straße bergaufwärts. Fahre und während ich nicht von der Stelle komme, spüle ich den Mund, spüle alles Leere gegen die Wangenwände. Als ließe sich damit noch etwas einreißen. Wessen der Mund überdrüssig ist.

„Ich habe Angst vor dem Leben.“ sagte die eine. Und ich sagte nichts anderes als: „Das brauchst du nicht, mit der Angst kommst du auch nirgends sonst an. Treffen im Leben immer nur auf den Tod.“ Dass sie etwas anderes meinen könnte, darauf kam ich nicht. Nicht damals. Und heute denke ich darüber nach und über die Situation. Wie wir in unsere Leben gekleidet waren, und so stolzierten. Zwischen den Büchern, als gehörten sie, als gehörte alles Wissen der Welt uns. Und das nur, weil wir im Raum waren, weil in diesem Raum das Gesetz auf unserer Seite war.

Kindheit. Das ist etwas, was wir das ganze Leben mit uns tragen.

Und ob man darüber glücklich sein sollte. Ich weiß es nicht.

Ich atme und vermisse die Kinderjahre. Das ist, als komme man aus dem Sommer immer nur wieder in den Herbst, den Winter. Herbst Winter. Lebensjahre. So. Und nicht anders. Ist das.

Über das Gras weht ein Wind. Furcht die Erde. In der Stadt ist davon nichts zu spüren. Wir riechen kaum noch den erdigen Grund, und wenn wir auf Rasen sitzen, dann eben auf Rasen, kein Gras, keine Wiese. Wie man sie kennt aus den Sommer-Kinder-Jahren. Sitzen zwischen Hundekot und erinnern uns der Erdhügel, der Maulwurfsburgen. Und wie wir den Hund hetzten, ihn zur Jagd antrieben. Bis wir dann wortlos standen und lauschten, wie die Kriechtierknochen zwischen den Hundekiefern krachten. Köterkot.

Die Straße liegt Licht bespuckt vor dem Haus. Ich gehe nicht, gehe nicht hinaus aus Furcht, mit den Hosen das Licht aufzuwischen.