Mittwoch, 28. Mai 2008

Die Blätter tuscheln, als könnte ich ihr Geflüster nicht verstehen. Sie reden vom Regen, weil sie ihn vor dem Eintreffen schon spüren. In den Adern, diesen winzigen Wasserläufen unter ihrer Haut. Ich denke an M., die immer sagte, sie spüre den Regen in der Narbe. Ich stellte mir vor, wie es unter ihrer verknoteten Haut erst kitzelte, dann prickelte und schließlich, wie es dort hart einschlug wie Hagelkorn. Aber jetzt tuscheln die Blätter zwischen den Zweigen über mir. T. sagt, er könne nicht über das Gras laufen, ohne es zu zertreten. Ich weiß, sage ich, pass trotzdem auf.

Durch die dichtdrängende Luft ist kaum ein Vorwärtskommen. Beim Atmen habe ich das Gefühl, Wasser zu schlucken. So viel schwerer als Luft, als die frische Bergluft, oder die Meerbrise. Die muss man nicht schlucken, die rutscht wie von selbst hinunter und hinein, plustert die Lungen wie einen Ballon auf. Deswegen glaubt man, wenn man am Meer oder auf einem Berg steht, man würde jeden Moment abheben. Einige ordnen dieses Empfinden dem Glück unter. Aber ich weiß, dass es die Luft ist.

T. macht große aber sachte Schritte. Seine Füße fabrizieren leise Geräusche beim Absetzen und wieder Anheben. Als hielten sie Zwiesprache mit dem, was sie jeden Augenblick zertreten oder dem, was sich langsam wieder aufrichtet, sobald sie das Körpergewicht aufstemmen. Sein Gesicht ist starr vor Konzentration. T. kann nicht zwei Dinge gleichzeitig. Er kann nicht reden und laufen. Entweder er spricht, oder er läuft. Beides zusammen funktioniert nicht. Ich hatte gesehen, wie er es versuchte, und dabei stolperte, hinfiel. Oder wie er ging und unverständliches Zeug vor sich herstammelte, mit den Händen immer wieder auf seinen Mund schlug um die Worte nach seinem Willen zu formen. T. weiß nicht, dass ich es weiß. Und ich spreche nicht mit ihm, während er läuft, geht, schwimmt oder sonst etwas.

Meine Augen seien Schießscharten, hatte T. einmal gesagt. Wir standen still und ich lauschte den Wellen, während T. sprach. Er hatte mich von der Seite betrachtet und sich wahrscheinlich vorgestellt, in den Winkeln meiner Augen Gewehrläufe auszumachen. Dann hatte er es gesagt und ich blieb still. Weil die Luft so leicht und das Abheben so kurz bevor stand. Doch dann hatte T. meine Hand genommen und gemeint, ich müsse keine Angst haben, seine Haut sei kugelsicher. Ich wollte lachen, aber meine aufgeplusterten Lungen ließen mich leicht abheben, und ich fühlte keinen Boden mehr unter den Füßen.

Das war eine Zeit.

Und jetzt laufen wir. Laufen davon wie gejagte Hunde. Wenn die Zeit uns einholt, sage ich, dann geht es nicht mehr weiter. T. lächelt, er hat nicht verstanden, was das bedeutet. Er kann nicht gleichzeitig auf der Flucht und in Gedanken sein. Über uns verstummt das Rascheln, ich sehe die Blätter ihre Silberseite nach Außen schlagen. Das ist das Zeichen, das den Gewittereinbruch kundtut. Die Zeit, schreit T. und stolpert, zerknittert das Gras über seine gesamte Körperlänge. Komm, wir lassen es nicht zu, steh auf, schreie ich und spüre die ersten Hagelkörner einschlagen. Sie ist uns auf den Fersen, kriecht mir die Waden hinauf. Ich kann sie kaum abschütteln. Ich blicke mich um, suche T.. Aber die Zeit hat ihn überrollt, als er dalag und nicht aufstand, weil er nicht zwei Dinge gleichzeitig kann. T. kann nicht aufstehen und parallel dazu auf mich hören. Ich renne und die Blätter über mir fangen den Regen ab.

Sie hat uns eingeholt. Die Zeit. T. ist vor mir auf der Strecke geblieben. Ich dachte daran, ihn aus meinen Schiessscharten heraus zu erschießen. So dass er es nicht mehr spüren würde. Aber die Gewehrläufe und seine Haut.

Ich renne und denke an M. und ihre Heckenschützenaugen, die hinter den schmalen Brauen ständig in Habachtstellung und auf Lauer liegen. Sie hat T. auf dem Gewissen, wie sie auch an H´s. Verschwinden Schuld trägt. M. ist ein Mordkommando, eine Sondereinsatztruppe. Für sie war ich immer schon das Krisengebiet, um das herum es Grenzen abzustecken galt. Wenn mein Leben eine Landschaft ist, hat M. sie geprägt. Sie hat Schluchten und Schützengräben hinterlassen. Rodungen, Verwüstung. Ein Katastrophengebiet. Es kam die Zeit, da konnte ich nur noch den Notstand ausrufen. Ich brachte T. mit mir in andere Gefilde, in sichere Abstände zu M´s. Abwehr- und Angriffsflächen.

T. ist auf der Strecke geblieben. H. war an vorderster Front gefallen. Er hielt es nicht aus, hielt diese Existenz zwischen Leben und Tod nicht mehr aus, hielt nicht länger fest am Leben.

Niemand, den ich kenne, ist nicht in den Hinterhalt der Heckenschützen getreten. Und zumindest ins Straucheln, ins Schwanken und aus der Schussrichtung der Lauffeuer geraten. Hinaus aus dem Krisengebiet, hinter die Absperrung.

Dienstag, 27. Mai 2008

T. und ich. Das ist wie ein eingeschworenes Team. (Wer über Phrasen stolpert, sollte einmal barfuss über Rasen gehen.) In jeden meiner Gedanken bettet er sich. Es scheint unmöglich, ist es aber nicht. T. hier. T. dort. Und ich kann ihn verstehen, schließlich existiert er nirgends sonst. Über den Rand meiner Kopfwelt hinaus, besteht kein T.

Vielen Büchern voran geht ein Zitat aus Klassikern. Ich würde einen Satz von Tschechow voranstellen. Oder aber einen, aus einem neu erschienenen Buch. Alles Große kann ja nicht schon gesagt sein. Sonst wäre die Arbeit eines jeden Schreibenden nur so dahin. Phrasendrescherei. Eben.

Es ist interessant, wie das Wort Inhalt formt. Darbietet. Und wie sich ein einzelner Inhalt in einer Fülle von Subtanz hält, wandelt. Ausdrückt. Ist das nicht die Absicht der Literatur? Herauszufinden, welches Wort mit welchem reagiert. Und vor allem: Was durch jede willkürliche Zusammensetzung entsteht?!

Aber das hat man längst vor mir erkannt. Nicht umsonst beginnt die Germanistik, Literatur- und Sprachwissenschaft mit der Verformelung einer Aussage. Aber hier möchte ich mich nicht verzetteln, denn den Unterschied oder die Gemeinsamkeit zwischen Sprache und dem geschriebenen Wort ausfindig zu machen sowie zu erläutern, ist ein größeres Unterfangen. Dazu müsste ich die Arme weit über den Kopf reißen, so dass Schaufelhände mich unterfassen könnten.

Wohin also?

T. und ich. Ausgangsschritt.

Heute Morgen ging mir eine Idee nicht abhanden. Trotz Erschöpfung und Schlafschwierigkeiten, dachte ich unentwegt daran, einen Text nach einer Tanzschrittfolge zu gestalten. Maßgeblich wäre Lesetempo, -rhythmus und Aussage bzw. erzählendes Element. In einen Tango ließe sich keine Langsamer-Walzer-Geschichte kleiden. Und erst recht nicht ausdrücken. Denke ich.


11:34

Sonntag, 25. Mai 2008

Fox-Trott: Slow. Slow. Quick. Quick. Slow. Slow. Quick. Quick.

Cha Cha Cha: Slow. Slow. Cha Cha Cha. Slow. Slow. Cha Cha Cha.

Rumba: Quick. Quick. Slow. Quick. Quick. Slow

Tanzen. Dabei folge ich blind. Gehorche Lautrufen nach pawlowschen Gesetzen. Lasse mich konditionieren in freudiger Erwartung der Belohnung. Irgendwann folgt niemand mehr der Stimme, sondern die Musik wird zum auslösenden Reiz. Die Gruppe beginnt sich zielgerichtet nach gemäßer Schrittfolge im Kreis zu bewegen. Diagonal durch den Raum. Nur so gelingt der Tanz.

Slow. Slow. Quick. Quick. Slow. Slow. …..

Der erste Quickschritt wird im 45° Winkel gesetzt, sodass ein Zick-Zack-Schritt-Muster entsteht. Das funktioniert. Ich habe es nicht glauben wollen. Doch dann gelang die gesamte Gruppe in das vorgesehene Muster und aus der Ferne mochte die Bewegung etwas von einer Welle haben.

Gruppendynamik. Tanzen ist ein Mannschaftssport. Eleganz und Grazie sind in diesen Anfängen zu suchen. Die Ästhetik fehlt. N o c h !

Ich hoffe, auch diese an einem Sonntagabend in der Bewegungsverzierung zu entdecken.

Bisher ein Straucheln nach Ansage. Alles Tanzen.

Freitag, 23. Mai 2008

Fuß-über-Kopf

Schleife mit den Armen über den für Beine bestimmten Boden, als wollte ich auf Händen stehen lernen. Dabei liegt mir nichts ferner, als kopflastig standfest zu werden. Schließlich bedeutete das eine Verankerung. Wobei ich mir nicht einbilde, in Raum und Zeit gänzlich unverankert zu sein. Nur die Beine, der Körper bis hin zum Hals gelten dem Kopf als eine Art Leine. So dass er nicht in jeder Beziehung frei, aber doch im bestimmten Maß eine Freiheit ausübt. Eine Voliere für den Geist. Einen Spielraum für Denkakrobatik bietet dieser Abstand. Und wenn man betrachtet, dass wir mit der Zeit wachsen, folglich an Freiheit dazu gewinnen bis hin zu diesem genetisch festgesetzten Maß an Körperlänge. Wenn man diesen Umstand, oder wohl mehr dieses schicksalhafte Glück, näher betrachtet, wird man zu einer Ansicht gelangen, die kaum als Erkenntnis gelten kann. Denn man wird feststellen, dass kein Mensch über eben dieses für ihn vorgesehene Maß hinauslangt, dass aber doch der eine an kürzerer, der andere an längerer Leine hängt. Nur dies führt zu keiner Verwunderung. Einzig, die Bemerkung muss gestattet sein, dass ein Hund an langer Leine gehalten, nicht weniger oder mehr bissig ist, als anderer an kurzer Leine. Die Akrobatik wird durch höhere Luftsprünge und waghalsige Drahtseilakte zwar interessanter, aber die Körperfiguren behalten den Schwierigkeitsgrad bei. Die Freiheit in die Höhe hinaus bietet nicht tausendfach mehr Möglichkeiten. Denn Kopf und Fuß bleiben in immer gleiche Distanz zueinander.

Mittwoch, 21. Mai 2008

- poe(m)try-

-

Zum Zeitlosen hin

aus der ganzen Zeit
die sich um ein Leben herum anhäuft
kralle ich mir wenige Stunden
Anhäufungen
von Minuten nur
nicht gebrauchter Sekunden

schnalle sie mir auf
oder auch um
um davon
um einfach fortwärts
oder weiterwärts

zum Bleiben hin
zu kommen

-

Wie zum Gebet kniest du und meinst: Rühr mich an! Ich falte und fächere die Hände, will dich greifen und verstehe in meiner ungöttlichen Sprache nur: Zieh mich aus!

Du schweigst, weil Nacktheit ähnlich wie Stille ein besonderes Maß an Intensität verlangt. Ausnahmslose Aufmerksamkeit. Also richte ich jeden meiner Sinne ausschließlich auf dich. Dressiere und züchtige mein Tasten, Schmecken, Riechen, Hören. Sehen. Weil die Augen ja doch anderes wollen, als die Finger. Ich komme gegen das Fühlen nicht an, sagst du, und meinst doch, gegen die Lust nicht anzukommen.

Ich faltete, wenn ich könnte, dir die Welt vor Füßen. Breitete sie aus wie einen flaumlosen Teppich und ließe dich. Was immer du auch wolltest, ließe ich.

Letztlich läge der Teppich – ja, die ganze Welt unten und fühlte sich betreten. Von deinen Fußtritten. Deinem Fingerspitzengefühl. Deiner Absatzmanschette.

Halt mir doch etwas vor, sage ich in ungöttlicher Manier. Halte mir etwas vor und ich schaue hinein. In dich, in ein Glas aus Milch, in einen Spiegel. In das ganze Abbild der Grausamkeiten.

Diätenerhöhungen
Stammzellen – “Retter-Geschwister“
Ausländerjagd
Champions League

Tagesausschnitte.

Rühr mich an!

Und ich greife hinein, vorbei an deiner stattlichen Brust, deinem biegsamen Rückgrat, deinen Schleuderrippen. Greife hinein und gerate nadelfein an Abgründen vorbei.

Und dann.

R ü h r e - i c h - d i c h - a n !

Dienstag, 20. Mai 2008

- poe(m)try -

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Nordwind. Eine Ortung, als hielte man den kurz noch angeleckten Finger in die Luft, sich vom eigenen Stand der Dinge überzeugt zu machen. Der Nordwind flieht über den Finger fort, nach Süden hin ausgerichtet und hinterlässt sich selbst nur als Abdruck von Kühle.

Wie tastbar ist ein Abgrund? Wie weit kann man sich kopfüber hinab lassen, um mit ausgestreckten Fingerspitzen das Abgründige zu befühlen? Nur so hängen, kopfüber, nicht weiter, nicht mit den Füßen hinab um einen Stand zu finden. Dort. Tieferwärts.

Ich gestalte meinen Sprachraum nach meinem Belieben. Grammatik die Wände; Rechtschreibung, die an den Wänden kleisternde Tapete; das Mobiliar eine Zusammenstellung an Satz- und Schriftzeichen.

Usw.

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Bin seit Tagen nicht mehr die Gleiche.
Bin ohne mit der Wimper zu zucken,
ohne Vorschlaghammer
gegen andere Meinung,
bin ganz ohne mich.

Und seit Tagen trage ich Nachthemden.
Trage sie obenauf und darunter
nackte Haut. Nacktes und krauses Haar.
Immer dort und versteckt. Kaum auffindbar
nach jedem dieser Kahlschläge.

Die Stadt liegt, lässt sich einkreisen
von Ringstraßen, macht keine Anstalten
wie ihre Bewohner.
Die mit Gewehren wie Geigen im Anschlag umher treiben.
Tausend tote Tauben habe ich gezählt.
Habe sie alle in die Hand genommen,
sie gebrüht und gerupft,
sie den Federn entleibt.
Was will die Stadt mit so viel Vogelvieh.
Und wohin soll ich
mit den fleischlosen Knochen, den Gerippen.

Tausend tote Taubentorsi.

Die Männer noch auf der Jagd.
Ich kann sie hören und rufe nicht.
Weil man nach streunenden Hunden nicht ruft.
Sondern nur wartet, wartet an Ort und Stelle
bis sie zu einem kommen.
Kommen und dafür belobigt werden.
Stets mit Speichel in den Mundwinkeln,
kommen und mit Zähnen nehmen,
was sie wollen, was sie erwarten,
was man schon in der Hand haltend hinreicht.

Sich selbst. Die Nacktheit. Das krause Haar.

Den äußeren und dazu den inneren Kahlschlag.
Und nachdem sie gekommen sind,
bleibt man zurück. Nur zu denen,
die brüllen kommen die Hunde nicht wieder.

.

Die äußere Erscheinung macht es.

Freitag, 9. Mai 2008

Er zieht sehnsüchtige Menschen an. Wie ein alter Mann sitzt der dahin treibende Fluss mit seinen Sonnenuntergängen, seinem Rauschen und seiner lahmenden Schifffahrt an immer gleicher Stelle und lockt und streut, damit sich die Sehnsüchtigen um ihn scharren. Ich sammelte Krümel von einer Stimmung, die einem nur am Meer begegnet. Hortete sie in meinem Innern, als würde mit dem morgigen Tag eine Not an Eindrücken einbrechen. Wohin kehrte ich mich, sollte Morgen nichts Sehnsüchtiges mehr in mir sein?

F. ist ein seit Langem Vermisster. Jeden Tag begegne ich ihm, aber niemals gingen unsere Gespräche über das Übliche hinaus. Niemals einen Umweg, auf dem man an andere, unbekannte Ziele gelangt. F. macht eine Ausbildung in dem Beruf, in dem ich längst berufen bin. Und wohin driften die Worte, die wir miteinander wechseln. Er ist kein Freund, er ist ein Mensch, dem ich über den Weg laufe. Wir wissen voneinander das, was wir jeweils des Weges tragen. Er saß dort, wohin ich wollte, so dass wir zusammen kamen, als wären wir verabredet. Und ich begann mir das Gefühl einer Verabredung vorzustellen. Doch ich stieß zu rasch an die Realität, als hinter uns eine Frau auftauchte, die ihm die Arme um den Hals legte und küsste. Ich trank, was F. schon lange vorher getrunken hatte. Ich sah es in seinen Augen. Diese leichte Schräge, in der er war. Die Küssende nahm neben uns Platz, sie war kleiner und ihre Augen stachen hellblau aus dem dunkel umrandeten Gesicht hervor. Ich mochte diese Augen, dieses Unausweichliche. Der kurze, rote Rock erlaubte einen langen Blick auf ihre kurzen Beine und ich fragte mich, auf welche Weise sie sich die Haare entferne. Die roten Höfe auf der blassen Haut verrieten sie. F. ist glücklich, dachte ich als ich ihn so sah und sie neben ihm. Was mag ihre Sehnsucht sein, welche Krumen wollten sie sammeln, überlegte ich und trank von dem, wovon F. bereits deutlich mehr getrunken hatte.

Ich lese und kann mir die Partituren nicht erklären, weil ich nie etwas von Partituren gehört oder gelesen habe. Aber ich sehe ihre schlanken Finger über das Schwarz-Weiß gleiten, sehe sie wie Möwen über Wogen fliegen und höre das schwere Atmen wie ein Brausen. Das Orchester wird zum Meer, und ich darin zu einer Ertrinkenden.

F. und seine Küssende habe ich hinter mir gelassen. Bin mit den Sehnsüchtigeren flussaufwärts gegangen, immer ferner dem Spektakel, welches die Sonne Abend für Abend verrichtet. Darin verlieren sich nur die Verträumten. Irgendwärts dem Quell nähern sich die Sehnsüchte dem Ursprung.

Donnerstag, 8. Mai 2008

Vor unseren Fenstern welkt ein Baum. Jemand hat ihn gewaltsam an die Laterne gekettet. Dort steht er einem armen, geknickten Trunkenbold gleich, der nicht mehr weiß, in welcher Richtung sein Weg liegt. Es ist Mai und die Menschen strömen wie fließend Wasser durch die Straßen. Schillernd und Hindernisse mit sich reißend.

Unsere Fensterbänke sind gelb vom Blütenstaub. Kinder machen sich einen Spaß, wenn sie mit den Fingerspitzen: Putz Mich! hineinschreiben. Demonstrativ schaue ich darüber hinweg, soweit die verklärten Scheiben es zulassen. Selbst die Hausverwaltung meinte, mich schriftlich auf den Missstand der Fensterfronten hinweisen zu müssen. Auch darüber schaue hinweg. Mit nebulös formulierten Umständen habe ich mich noch nie eingehender befasst.

Es ist Mai. Die Sonne brennt Pigmentierungen. Ich stelle mir die äußersten Enden der Sonnenstrahlen vor, wie sie mir nadelfein die Farbe unter die Haut zwängen. Ich beobachte die Flecken, besonders jene, die größer, tiefer, dunkler werden.

Hautbild-ung.

Alles Herzinnere ist Untertage. Und alles Handhaben darin ist Untertagebau. Wohin gräbt also einer, der schachtet und schachtet und nicht mehr zurück ans Tageslicht gelangt?

>> …; denn es ist eine Freude zu spüren, wie Kälte im Herzen aufsteigt, und sich sagen zu können, während man es prüfend mit der Hand berührt wie einen noch rauchenden Herd: Es brennt nicht mehr.<<

Gustave Flaubert -November-

Montag, 5. Mai 2008

Leerzeichen, sagte eine, benutze sie nicht.

Das ist mir im Ohr geblieben. Ich weiß nicht mehr, wo und wann ich es hörte. Aber ich weiß, dass es eine Frau war, die das sagte. Und zum ersten Mal dachte ich darüber nach, was Leerzeichen eigentlich sind. Ein Paradox. Ein nicht erkennbares Zeichen. Wobei. Doch erkennbar, durch das Weglassen allen Füllstoffs. Diese Stimme, die von irgendwoher klang, werde ich im Kopf behalten. An einem Fleck irgendwo im Gedächtnis, an einem Platz, der umgehend geräumt wurde. Wie ein leerer, ein unbesetzter Stuhl wird dieser Flecken jetzt für lange Zeit belegt sein. Ein Zuschauersaal, so stelle ich mir das Erinnern vor, aus dem hin und wieder einer aufsteht und geht, einfach verschwindet, und der leere Platz bleibt zurück, als hätte niemals darauf jemand gesessen. Und ebenso kommen andere, die sich nur kurz umschauen und dann bleiben. Für eine Weile oder auch länger. Einige überwintern, während ich, also mein ICH, auf der Bühne stehe und hinab schaue, immer diesem Spotlight hinterher, der durch die Zuschauerreihen streift und die Bewegung, wie manchmal auch die Ruhe verfolgt. Manch einer war schon im Saal, bevor ich überhaupt erst auf die Bühne stieg, bevor ich überhaupt begriff, meinen Blick als Leuchtpunkt zu nutzen. Und mancher, so macht es den Anschein, wird ewig bleiben. Ewigliches. Wenn es zuviel wird und Unruhe im Zuschauerraum eintritt, dann setze ich alle Hebel in Gang und lösche das Licht. Stockdustere Finsternis und nur ich auf der Bühne, leicht oberhalb der Sitzreihen. Dann wird es still und mir ist, als hielte ich die Augen geschlossen. Leerzeichen rücken Abstand zwischen die Füllzeichen und erst mit dieser Fehlstelle rückt Sinn in Sichthöhe.

Mein Gedächtnis ist porös. Häufig sehe ich mich an der Erkenntnis leiden, Vieles nicht mehr zu wissen. Das ist nicht das Übliche. Nein, darüber geht es längst hinaus. Und vielleicht ist es so, muss so sein, weil es ein natürlicher Fluss ist. Hohe Konzentration gleicht sich zur niedrigen Konzentration hin aus oder auch umgekehrt. Alles in meinem Kopf Vorkommende, driftet aus ihm heraus, weil ringsum nichts ist, was diesem Fließen Einhalt bietet.


Freitag, 2. Mai 2008

Jeden Tag nehme ich für Herrn V. aus den oberen Stockwerken ein Päckchen entgegen. Hat Glück, der Herr V. Ich weiß nicht, was er empfängt, aber wenn er später klingeln wird, wird er mir danken und ich werde sagen, dass es mir nichts ausmache und er Glück habe, dass ich immer zu Hause bin, sonst müsse er abends, wenn er kommt noch einmal hinaus und zum Paketschalter. Der ist am Bahnhof. Eine Station, die auf Knopfdruck das richtige Türchen öffnet.

Ich habe zurückgeschaut. Da war es anders. T. stürzt aus dem Fenster, L. schaut ihm nach und M. interessiert sich einen Scheißdreck dafür. So ist das, und ich gerate in einen fortwährenden Überschlag. Eine Art Looping, den man bei einer Achterbahn auch Inversion nennt. Kommt eben immer auf Namen, Rang und Gruppe an. Jede Dazugehörigkeit lässt sich irgendwie betiteln. Und ich hänge fest. Unabsichtlich. Dabei gerät doch alles in Wiederholung. Selbst der Herzschlag ist eine ewige Aneinanderreihung, nur eine Abfolge gleicher Wiederkehr. Das Fortdauern der immer gleichen Schlagkraft. So, wie diese Kontraktion plötzlich begann, wird sie irgendwann, in unbestimmter Zeit enden. Wiederholungsstopp!

Das Glück oder auch das Unglück ist alles andere als geduldig. Es kann nicht abwarten, greift zu, wenn ihm danach ist, trifft ein, wenn keiner damit rechnet. Wie unerwartete Gäste sind diese Zustände. Immer mit der Tür ins Haus und nur nicht von längerer Bleibezeit überzeugen oder bloß nicht hinauskomplimentieren lassen.

Manchmal bleibt jedes für sich aus. Kein Glück, kein Unglück weit und breit. Eine abwechslungsarme Landschaft die ganze Zeit. Und so plätschert sie nicht trüb nicht untrüb dahin und man badet nur die Füße darin, denn mit dem Alltäglichen bleibt man lieber in standfester Absicht. Nackte Füße finden allemal den Boden, anders als gänzlich nackte Leiber. Sie tänzeln in Aufruhr nur so dahin, sich irgendwo zu verbergen.


Auf der anderen Seite werden Kranhäuser gebaut. Wenn ich mich hier mit meiner Decke ausbreiten möchte, muss ich mit den Augen einen Rahmen abstecken, um nicht unmittelbar Hundescheiße zu erwischen. Aber man erwischt sie immer. Vielleicht nicht mittig, eher nur so am Rand, dass die Füße oder der Ellenbogen daran Anstoß nimmt. Ratten erwische ich auch immer wieder, nur die will dann keiner gesehen haben. Das ist zu anderen Zeiten. Auf ihren Streifzügen berühren sie meine Füße. J. sagte, ich solle ihr nicht mit Ratten kommen. Nachdem sie in Irland ein von Mäusen bewohntes Zimmer bezogen hatte, erlebte sie Tiefgründiges. Seither seien die Nager und Kriecher ihr nicht geheuer. Sie hatte Bissspuren und konnte die anfangs nicht erklären, bis dann die Mäuserei aufgeflogen war. Also erzählte ich J. nicht länger von den Ratten, obwohl die mich nie beißen. Außer mir liegt allerhand MUndrat am Fluss.

Jedenfalls. Auf der anderen Seite wird der Hafen zu einer Promenade mit Wohnanlagen umgebaut. Anlage klingt immer nach Klärungsbedarf. Die über zwei Kilometer lange Flussstrecke ist betoniert und zugleich ramponiert. Nur zehn Bäume. Und das nennen sie Grünanlage. Aber die Häuser der Zukunft bieten Dachgärten. Wie schön. Stell sich einer mal vor, ein anderer geht in den Garten und kommt nicht wieder. Vor dem Haus wird Getümmel laut, ein Blaulicht fährt vor. Während unten alle schauen, geht man nach Oben, geht auf das Dach, in den Garten und sucht noch den anderen.

Die alten Stapelhäuser sind abgerissen. Bei einigen Gebäuden hat man versucht, die äußere Fassade zu erhalten. Aber was ist Fassade denn mehr als ein Augenschein? Und Glas. Beinah alle Wände sind aus Glas. Mehrstöckige Petrischalen.

Hier wird dem Ufer eine Mauer entlang gezogen. Hochwasserschutz wird gesagt. Aber ich glaube, sie wollen die Ufer noch deutlicher voneinander trennen. Der Fluss ist derzeit zu gut zu überqueren. Unkontrolliert. Demnächst wird das Ufer nur noch an den Fährenanlegstellen betretbar sein, denn dort erleidet die Mauer Durchbrüche. Andererseits wurde das Hafengelände um zwei Meter angehoben. Damit die Kranhausbewohner keine Hochwasserschäden in den Tiefgaragen befürchten müssen.

Alles schön so. Ich kratze mir die Hundescheiße von der Sohle und betrachte die Brücke, wie sie von Einem aufs Andere greift.