Dienstag, 31. Dezember 2013

Mit den Füßen bin ich immer ein bisschen voran. Vielleicht sogar schon im neuen Jahr. Meine Fußspitzen sind immer ein wenig älter, als ich es eigentlich bin. Und auch deswegen schaue ich vor wichtigen Entscheidungen immer erst auf meine Fußspitzen, denn die wissen ja, wie es so ein klein wenig meiner Zeit voraus aussieht. Also für mich erst noch aussehen wird, aber für meine vorauseilenden Fußspitzen eben schon aussieht. Mit den Zeitformen darf man nicht spielen, man muss sie anwenden, wie sie eben hingehören. Das Kommende wird das Kommende sein und das Gewesene, war längst schon gewesen oder wird gewesen sein? Ach herje, man darf nicht anfangen, in den Zeiten zu wandeln. Denn dann wandelt sich gleich aller Sinn. Und auch der Verstand beginnt dann zu drehen. Dreht sich hin, dreht sich her, und alle Welt wird kreiselhaft. Man ist dann Geisel seiner eigenen Drehbewegung. Aber der Zeit ist man deswegen noch längst nicht voraus. Außer die Fußspitzen vielleicht.

Nächstes Jahr werde ich mir die Haare vielleicht nicht schneiden. Vielleicht werde ich sie schneiden lassen. Ich werde durch die Straßen und gezielt zu einem Haarschneider gehen. Oder lieber einer Haarschneiderin. Es sind immer mehr Frauen als Männer in meinem Leben zu finden. Ich werde also so schlendern und dann in einen Haarschneiderinnensalon hineingehen. Mich hinsetzen. Gucken und staunen, und sicherlich werde ich ängstlich werden und zweifeln, ob es eine gute Sache sein kann, wenn jemand anderes, auch wenn es eine Haarschneiderin ist, mir ans Haar und damit unter die Wäsche greift. Ich werde es nicht aushalten können und den Haarschneidesalon schnell verlassen. Vielleicht werde ich rennen. Das Haar aber wird unbeschnitten und von Fremden unberührt bleiben. Von fremden Händen wie von Haarklemmen im Haar bekomme ich Kopfschmerzen

Sonntag, 22. Dezember 2013

Das Jahr wird in kürzester Zeit ausklingen. Vielleicht wird Mutter am Vorabend des Ausklangs beginnen die immer selbe Geschichte zu erzählen, vielleicht wird sie beginnen, die Ecken der Tischdecke nach Oben zu drehen, sie mit Nadeln feststecken und dann so tun, als wäre alles Tischtuchbedeckte ein Segel, und als ließe es sich am Vorabend des Jahresausklangs noch entkommen.

Wer mich verfolgt, der weiß, dass das Entkommen sich wiederholt, dass das Entkommen und die Flucht an sich, mir einverleibt sind. Wer mich verfolgt, gibt mir Fluchtgründe. Unergründliche Räume, in die es hineinzukommen gilt. Oder manchmal auch heraus.

Das Jahr, wird Mutter sagen, versucht sich immer nur selbst zu entkommen, und prompt wie es das versucht, stolpert es erneut in sich selbst hinein. Selbsttäuschung, grient Mutter und zuckt mit den knöchernen Schulterhügeln. Sich selbst täuschend, denke ich und beobachte Mutter, wie sie mit den alten Händen die nicht vorhandenen Fettpölsterchen von den Hüften streicht. Sie stellt sich geschickt an, macht gerade so, als streiche sie sich Falten aus dem Rock. Aber es sind keine Falten, Mutter drückt auf ihren Körper, sie möchte wegstreichen, was sie nicht hat.

Das Jahr wird ausklingen und ich gucke zurück und sehe die Dinge, die ich mir im Vorjahresausklang schon für das neu Einklingende vorgenommen hatte, und nehme sie mir erneut vor

Donnerstag, 12. Dezember 2013

Der aus Afghanistan hat Blut an den Händen. Ich sehe ihn durch den Türspalt, sehe ihn diesen Türspalt breit. Seinen Bärenrücken diesen einen Spalt breit nur. Und das Blut an seinen Händen. Ich denke daran, wie er aus dem Wüstensand Dreck gemacht hat und mit dem Gewehr in der Achsel umhergetrieben ist. Ich denke und male mir Bilder, Bilder, aus denen ich mir auch den, der in Afghanistan war, herausschneide. Schneide ihn an den sanftesten Stellen eckig und kantig. Das Blut an seinen Händen ist Kinderblut. Ich sehe, wie er sein Kind auf den Arm nimmt, wie das Kind aus der Nase blutet. Zartes Kind, denke ich. Ein so zartes Kind aus einem solchen Bärenrücken. Der aus Afghanistan streichelt sein Kind, legt ihm die große Pranke auf den Kopf. Streichelt den Kindskopf auf seiner Schulter. Weshalb der sanfte Bärenrücken in die Wüste geschickt worden war, sagt er nicht. Er sagt nichts, was ihn in eine Ecke treiben könnte. Und so steht er diesen Türspalt breit nur, steht und tröstet sein Kind und weiß gar nicht, dass ich diesen Spalt seines Lebens beobachte.

Ich beobachte. Ich sitze auf dem Hochsitz und schaue, als schaute ich in Begreifbares. Vielleicht wage ich es nicht, das Leben in die Hand zu nehmen. Das Eigene oder auch das Andere, das Allgemeine oder das Besondere. Wissenschaftsfloskeln. Im Allgemeinen scheint das Leben ja ein Grundzustand zu sein, ein Weltgrundzustand, während im Besonderen, jedes im und am Leben seiende Geschöpf, das Leben an sich in seiner ihm eigenen Besonderheit gestaltet und erlebt. Das ist das Sonderbare. Der Akt der Gestaltung geht vom ebenso erfahrenden Subjekt aus. Das Leben ist kein zu ertragender, sondern viel mehr ein zu gestaltender Zustand. Wenn man denn möchte. Das Leben oder die Lebensgestaltung ist abhängig vom Leben tragenden Wesen. Und von den ihm möglichen Umständen.

Ach ja. Ich sitze also und gucke. Schaue, wie der aus Afghanistan sein und nun auch das Leben seines Kindes gestaltet. Mit den Händen, die auch ein Maschinengewehr halten, es putzen und laden und entladen können, mit diesen Händen hält er den Kopf des Kindes. Wischt ihm die Nase und dann auch seine Kindkopfhalthände sauber. Wie er das macht, sieht er beinah so aus, als wüsste er nichts von der Welt. Wüsste nichts vom Wüstensand und den darin schlafenden Minen, wüsste nichts von Auf- und Abrüstung, wüsste nicht, dass ich ihm im Rücken sitze und schaue.

Ich, die immer nur schaut, während ihr die Haare ausgehen. Eines nach dem Anderen. Ich habe ein Sammelbecken. Eine Haarsammelstelle. Jedes Haar, das mir entfällt nehme ich sorgsam zwischen Daumen und Mittelfinger, nehme es in diese Fingerhaltestelle und lege es behutsam in die Sammelschale. Ein Haar nach dem Anderen. Mit den Haaren gehen mir die Hoffnungen aus. Hoffnungen auf Großes und Kleines. Auf Grob- und Sanfthölzer. Mir reißen Kerben dort, wo mir die Haare ausgegangen sind. Ich wiederhole das Bild von der Kahlrodung in allen Gefilden. Ich begreife vielleicht mein Leben nicht, und deswegen schaue ich, das anderer zu begreifen. Mit den Haarfingerspitzen, Fingerhaarspitzen, Spitzfingerhaaren.

Und die Kinder, die als kleine Menschen aus einem herausreißen. Diese Kinder, die man einfach nur lieben und küssen möchte, ich begreife sie nicht. Sie nehmen mich bei der Hand, sie lächeln mir zu, sie sind kleine Menschen, die noch so viel werden gestalten können, diese kleinen Menschen sehe ich, sehe sie und möchte sie bewegen, und ich sehe, ich werde sie nicht bewegen können, ebenso wenig bewegen können, wie die Zehen meiner tauben und längst schon abgestorbenen Beine. An denen bewege ich nichts mehr.

Aber vielleicht, wenn ich durch diesen Türspalt nur ein wenig, so ganz sacht hinan greife, dann …

Montag, 9. Dezember 2013

Ich ziehe mich durch Nadelöhre am seidenen Faden, den ich immer irgendwie auszuspeien verstehe. Ich verstehe mich darin, mir selbst ins Ohr und in die hintersten Kammern zu kriechen. Ein Kriechgeschöpf bin ich. Ein Kriech- und Verstrickungstierchen. Meine Stirn runzelt Falten um die Gedanken, die ich mit den Füßen aus den hintersten Kammern trete. Auch um Platz darin zu schaffen. Meine Stirn runzelt Falten und das Jahr legt sich lang, streckt sich vor mir aus, glättet sich in seiner Eintönigkeit. Jahr für Jahr für Jahr für Jahr für Jahr für Jahr. Und so weiter! Und am ersten Tag des Jahres geboren worden zu sein, bedeutet auch, das Jahr vor sich hingestreckt zu sehen. Nackt und kraus oder auch nicht nackt und nicht kraus. Das Jahr aber doch, liegt dort vor dem, der gerade zu Beginn des Neuen schon wieder älter geworden ist. Liegt also vor mir und mein Geburtstag ist mit dem Silvesterlicht ein- und sofort auch wieder ausgeläutet. Wie viele Stunden des ersten Tages im Jahr werden verschlafen? Alles Schlafstunden. Und ich bin um eine Lebensfalte älter geworden. Im Schlaf. Auch. Ja.

Nein. Kriech- und Runzeltierchen müssen sich nicht so viele Gedanken machen. Also krieche ich, krieche weiter und tiefer. Krieche bis hin, wo es sich anzufassen noch lohnt. Wer öfter von Händen berührt wird, lebt länger. Noch mehr auszuhaltende erste Tage und Nächte auch.

Ja. Eine Zigarette vielleicht. Einen Wein und etwas, was kleiner ist. Das Leben lässt sich feiern, feiert sich ab in unseren Körpern, feiert sich selbst und sein Erscheinen, sein Sein usw usw. Da verliert man den Durchblick. Eine Zigarette? Ah. Nein, Danke! Die Lust feiert immer mit. Der Verstand, das seltsame Ich-sag-mal-was-Tierchen, ist schlaftrunken immer hellwach. Der Verstand ist ein euphemistisches Tierchen. Du kannst auch ohne Wein und Zigarette lustig sein, Spaß haben, sagt er. Ja. Ja. Und ich lache noch. Lache voraus und hinterher, lache mir ins Faltenfäustchen.

Ein Kleid würde ich tragen wollen. Zu meinem nächsten Geburtstag werde ich ein Kleid tragen. Eines aus Schönwortestoff und Klangfarbe. Ich werde die Schultern recht winklig halten und meinen Hals gestreckt, mein kurzes Haar noch kürzer erscheinen zu lassen. Ich werde Schuhe vor das Bett stellen und meine Beine nicht rasieren. Ich werde Mäuschen spielen und im Kleiderschrank Verstecke suchen. Ja. Ein Kleid wird es werden sollen.

Und nun stelle ich fest, mir ist etwas abhandengekommen.