Montag, 30. November 2009

Fragst, gehst hinein in den Wald und vielleicht kommst du, kommst heraus auf ganz unverstellten Wegen, dort nämlich wo Lichtung ist. Was aber ahne ich, wenn ich das ahne, was nicht ist. Und die Einengung, weil ich nur von dem ahne, was nicht ist, bricht auf in der Weise, dass ich das, was ist, nicht erahnen brauche, weil es ist. Es stellt sich aber so mir die Frage, ob das, was nicht ist, allein durch mein Ahnen wird, also existent wird? Und bin ich dann im ausufernden Sinn Schöpfer dessen, was ich ahnte?
Du siehst, der Wald ist ein Duschgel, ist Himmel, ist Meer. Das Einzelne ist kaum im Ganzen zu erkennen. Und ich kaleidoskopiere, schaue mir in der Brechung des Ganzen nur die Splitterteile an. Erfreue mich an Licht und NichtLicht, denn auch daraus schließt nichts anderes als Sein oder NichtSein. In einem Blatt schrieb ich, dass am Anfang das Wort war und erst im Nachhinein kam ich auf die Frage, war das Wort nur – unabhängig von Silbe, Buchstabe, Laut – war das Wort also nur, oder wurde es auch gesprochen? Und hier ließe sich der Gedanke wieder ansetzen, ab wann ein Wort ist. Ist es schon oder wird es erst im Sprechen? Wenn das Geahnte durch das Ahnen allein existent wird, dann ist es, ist mit dem Werden letztendlich geboren und demnach nicht mehr zu ahnen notwendig. Das ist nicht länger ein adressiertes Selbstgespräch, das ist ein Entwirren verworrener Schnüre, das manches Mal nur mit einer Schere noch zu bewältigen ist.


-

An dich habe ich so oft schon gedacht und mich gefragt, ob alles Gedachte imaginär ist. Und mit der ganzen Einbildung bin ich in romantischer Geselligkeit. Die Unübersetzbarkeit von Einbildung und Tatsache in das jeweils andere scheint unbegründet. Bild wird Schrift, wird Ton, wird greifbar. Vielleicht steht auch die Realität zur Nicht-Realität in einem Verhältnis von 1: 2 oder 2:1. Alles Atmen ist doch Wiederkehr in der Welt. Ist Frequenz und Doppelton. Ein. Aus. Ein. Aus. 1:2 ist eine der leichtesten Tanzschrittfolgen. Lang : Kurz Kurz. Lang : Kurz Kurz. Zur passenden Musik und richtigen Körperhaltung ließe sich ein geschlossenes System erkennen. Abiträr und deswegen Freiwild ist alles, was ich schreibe.
Und wenn ich an dich denke, denke ich an Fensterglas, an Abgenutztes und Unabänderbares. Ich fühle mich in diesem durch Worte beschriebenen Raum, fühle mich zwischen die dargestellten Menschen, fühle mich hinein gestellt ohne Bezug zu all dem. Fühle mich wie gespannte Angelschnüre, an der sich niemand mehr schneidet. Aber du sagst, ich könne schwimmen, und erst durch dein Sagen, schwimme ich tatsächlich. Dass ich vom Erkennen anderer so abhängig bin, wollte ich mir nicht eingestehen, aber ins Meer streue ich nichts als Salz. Alles Seiende hat Substanz und Wirkung.
Die Sonne tut in dem Moment das Ihrige. Als wollte sie die gefrorenen Ziegel schonen, schleicht sie hinterrücks heran, ist schon längst da, bevor man ihres Schleichgangs überhaupt aufmerksam wurde. Ideen sind schonungsloser, sie greifen an, greifen mitten hinein und geben keine Ruhe mehr. Warum schläft die Stadt, ist sie so ideenlos?
Weil du mich siehst, sehen mich andere. Und durch das ganze Gesehenwerden, nehme ich mich auch außerhalb meines Selbst wahr. Ein Aquarienfisch, der sich, trotz Salzwassers, seiner Begrenztheit bewusst wird. Vielleicht wird es auffällig, wie oft ich in Unterwasserwelten tauche. Aber das ist nicht der einzige Ort. Im Gehölz ist es Niemandem aufgefallen. Nicht im Gehölz, nicht auf den asphaltierten Straßen und auf Grasflächen, in die Steppe hinaus habe ich es noch nicht gewagt. Womöglich der Übersichtlichkeit wegen, vermutlich aus purem Instinkt, aus Angst vor den weiten Flächen, die unmöglich Fluchträume bieten können. Und immer nur von allen gesehen auf der Flucht, immer wieder nur die Füße in die Hände nehmen und rennen. Unendliches Rennen. Da schlägt allerorts in jeden Winkel Wind ins Gefieder.
Abgedroschenes Leben schreibe ich durch meine Finger, wie andere es zwischen den Beinen tragen. Tragen es dort, als würde das allein zur Wiederbelebung genügen. Aber dass es das Gebrauchtwerden, das sture Be- und Abnutzen ist, was Leben einhaucht, begreifen sie nicht. Also tragen sie, fahren unbesetzte Kinderwagen durch die schlafende Stadt, tragen Abgestorbenes zur Schau ohne Zuschauer. Und ich warte, warte auf eine nicht folgende Reaktion auf diese Aussage. Warte mir schattiges Grün und purpurnes Blau unter die Haut. Aber das du mich siehst ….


-

Du sagst, du seiest zustandslos, irgendwie untertage, und ich denke an die Untertagebauten, die man oberflächlich nicht zu Gesicht bekommt, obwohl sie ganze Landstriche ausmachen. Da, wo Kahlschlag regiert, lohnt der Blick unter die Haut. [Irgendeiner sagte, die Erdfläche sei nur Haut und die Menschen darauf Ungeziefer.] Aber wie viel Geziefer ich wirklich bin, solle man mir doch selbst überlassen.
Du sagst, es freue dich so, dass ich schreibe. Aber von den vielen Unmöglichkeiten keine Spur, keine Ahnung, kein Annehmen oder Hoffen. Ich schreibe kaum noch, ich hole Luft zum Atmen, schleppe jeden Tag daran, fühle mich sisyphosisch und habe in der Gegenwart den Blick in die Zukunft. Du sagst, du hast aus Nobel gepriesenen Mokkatassen getrunken. Ich beneide dich darum!

Das habe ich dir schon vor Tagen geschrieben. Bis Heute liegt es ungelesen , liegt wie eine Leerstelle. Bis B. sind es vier Stunden, aber in Gedanken bin ich bei dir. Und bei deiner Zustandslosigkeit ist es ein Leichtes für mich, mir deine Aggregatzustände auszumalen. Ich denke dich erden, federn, ich denke dich luften allerorts, flüssig von Gefäßwänden gerahmt, ich denke wie es mir gefällt. Untertagegrachten.
Manchmal überhole ich mich im Leben und muss mich mahnen, mich wieder einzuholen. Wie man einen am Haken hängenden Fisch einholt. Mit Kraft und Gewalt, mit der Lust und Absicht ihn zu töten. Die Beute ist immer auch die Krone. Ich überrenne mich um Weiten, schlage mit dem Herz bis zum Hals, manchmal auch die Beine hinab und hinaus. Schlage hinaus und zwischen die Beine. Ein windender, zappelnder, wirbelloser Zitterfisch. Ich entwische.

Hast du die Blätter an die Anderen, die du nicht kennst, gelesen, hast du gelesen und gesehen, wie das Schreiben sich mit dem Gelesenwerden ändert? Wie das Lesen dem Schreiben auf die Haut rückt, wie es kritzelt und kratzelt, wie es sich unabwendbar macht? Und hast du mich gesehen? In letzter Zeit, in gerade vergangener Nähe? Ich verliere von mir. Vom Ursprünglichen kommt mir das Wesentliche abhanden.
Du erinnerst dich, der, der am Lineal seine Zukunft mit mir abmaß, du erinnerst dich, an den, der mich liebensunwürdig nannte. Er hatte womöglich Recht, er erkannte meinen Verlust, er hatte ihn lange schon vor mir verstanden. Du erinnerst dich an den aus Afghanistan. Er nahm ein Stück, obwohl ich es nie so meinte, von mir und asphaltierte es in die Wüste. In diesen Staub aus Sand asphaltierte er einen Teil von mir hinein. Und der mit dem Gedichtband auch. Alle die, die nicht wiederkehrten.

Narrative Unmöglichkeiten, Intertextualitäten. Wer erkennt sie denn über die Grenzen hinaus? Wer legt denn sein Ohr an die Luft und lauscht? Wer nimmt die Worte noch in die Hand, sie abzuwägen? Wer rückt denn sein Bett von der Wand, weil an derselben Wand nur anderseits ein fremdes Bett steht?

Du sagst, du seiest zustandslos und aus der Haustür führe keine Richtung.

Mittwoch, 18. November 2009

Ich weiß, du bist in L. und wahrscheinlich schaust du aus diesem Stillleben unbewegt hervor, das ich von dir kenne. Aber es wird nicht schneien, während hier im Norden die ersten beginnen Schneeketten über ihre Frühlingsgefühle zu ziehen. Du sagst, es sei das Leid einiger, in ihren Gedanken stecken geblieben zu sein, und ich sehe dich denken. Ich weiß nicht, ob es wirklich ein Leid ist oder war oder demnächst für andere noch sein wird. Ob man in einer Gedankenwelt in einen Stau, in eine Sackgasse, in Einbahnstraßen geraten kann, weiß ich nicht. Dem Gedanken sind die Grenzen nicht wie dem Körper gesetzt.
Das letzte Mal, als wir einander sahen, war Sommer gewesen. Vielleicht keine Jahreszeit, vielleicht nur eine Übergangsvariante, so wie man auf dem Weg von der Umkleidekabine zum Wasserbecken ein Handtuch umlegt. Nur eine Möglichkeit die Zwischenzeiten zu überdauern. Ansonsten auch mit dir nur virtuelle Hinterzimmermöglichkeiten. Weil sich im Dunklen die Dinge anders sagen lassen? Poetenbar mit Poetenaugen an Poetenwänden. Dass wir nicht lachten und dabei im Ernst noch immer den Wein ausschenkten! Wir sprachen über das Schreiben, als sei nur das es gewesen, über das wir hätten miteinander sprechen können. Als ob wir überhaupt hätten so schreiben können, dass sich darüber sprechen ließe. Einer von uns war ausgeflogen, wäre ich es gewesen, ich hätte ausgeflohen gesagt, aber ein anderer war über den Nestrand gesprungen und ist bisher nicht wiedergekehrt. Dort, wo ich seit Jahren bin, kehrt niemand hin. Gewagt Ungewagtes gehe ich an …


Am ehrlichsten schreibst du immer noch, wenn du an dich selbst adressierst. Ehrlich, ehrlicher, am ehrlichsten? Wahrheit oder nicht, das ist hier die Aussage! Du liest die Blätter der Anderen, als wären sie an dich gerichtet, oder eben auch, du schreibst die Blätter, als wären sie an Andere gerichtet. Die Frage, wie verlässlich das Schreiben ist, wird eins mit der Frage, wie verlässlich das Lesen ist. Und ich könnte an dieser Stelle beginnen, ICH zu schreiben. Aber du wirst mir zustimmen, kaum einer spricht sich über die Schulter selbst ins Ohr. Ins Gewissen, vielleicht, ja, aber ins Ohr?
Wie weit ist es bis zum Rand, vom Alltäglichen zum Schönen? Wo entlang zieht sich das Grenzsein zwischen Hier und Dort. Hier, wo ich bin und dort, wo du bist. Hier, wo ich schreibe, dort, wo du liest. Und wenn ich von Phantomschmerzen spreche, überall dort, wo du nicht bist – (auch hier eine Wiederholung nur) – wo ist dann dieses überall dort und wo genau sind die Schmerzen?
Du löst deine Worte inmitten einer Unmenge von Worten, so als lösest du eine handvoll Salz im Meer auf. Und dann sitzt du auch noch hier/dort und wartest, dass jemand genau dein Salz im Meer erkennt, es herausschmeckt. Auch hier ließe sich der Gedanke mit dem Wald und den Bäumen, dem Förster und der Schneise anbringen. Alle Gedanken ließen sich im Grunde verbinden, nur bekäme man einen Strick nie gebunden, weil es keinen Anfang, kein Ende nehmen würde.
Wenn dir einer einen Narziss vor Augen hielte, würdest du dich wieder erkennen? Ich sage wieder erkennen, nicht erkennen, weil davon auszugehen ist, dass du dir längst selbst in Vergessenheit geraten sein könntest. Fluchtkörper sind zumeist ohne Erinnerungsschranken. Nicht und nirgends ein Ort, der etwas aufhält. Gedächtniskultur ist eine Kultur des Aufbewahrens. Und wer flieht, hält an nichts mehr fest. Vielleicht bist du Fluchtkörper geworden, weil du mit diesen Köpfen, die durchdringend mit einer Art von Flucht beschäftigt waren aufgewachsen bist. Die Mauer gab jeden Anlass Entkommensgedanken wie heimliche Pflanzen zu kultivieren. Und alles, was wächst, beeinflusst das nebenan Wachsende. Unkraut, Wild- und Freiwuchs. Hättest du einen Förster gebraucht, um keinen Fluchtkörper zu bekommen?



Wenn einer einen Förster braucht ….
Manche sagen, wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Ich habe gerufen, aber heraus kam nichts. Nicht aus meinen Mund, nicht aus dem Wald selbst. Vielleicht ist der Himmel wie der Wald, auch nur eine Summe von Einzelnen und wir sind gar nicht in der Lage, das Einzelne in der Summe zu erkennen. Du könntest jetzt hier mit Mathematik beginnen, aber inwieweit ein Schneider dazu befähigt sein wird, aus Flüssen ein Meer zu stricken, weiß ich nicht. Ich ahne. Ahne immer nur von dem, was nicht ist. Und jetzt bist du nicht mehr, zumindest nicht hier und dort, wo ich noch bin.
Per Briefpost durch die Galaxie, durch die Zwischen- und Hintertüren der virulent Virtuellen, hin zu den universal Progressiven. Wenn die Flaschenpost das Meer überdauert, überdauert vielleicht der Mensch seine eigene Zeit und Technik. Wenn einer einen Förster sucht, geht er hinein in den Wald und kehrt nicht wieder hinaus.

Mittwoch, 11. November 2009

Wir stoßen wenigstens noch aneinander, sind wie gerissene Angelschnüre, die durch einen Fluss treiben aber zum Meer nie gelangen. Als würde das Meer noch etwas ändern. Vielleicht sind wir einander die größten Lügner, jeder im Geheimauftrag des anderen unterwegs, bleiben die unbesprochenen Dinge unter dem Teppich gekehrt. Andere wickeln Leichen, wir treten mit Absatzschuhen jeden Kahlschnitt und flaumlosen Teppich. Wir geraten an uns selbst in die windigste Ecke. Und dass du nicht widersprichst, liegt nur daran, dass du ungesagt bleibst. Wobei ungesagt nicht unaussprechlich bedeutet. Also spreche ich dich, spreche regelmäßig die Abfolge der Buchstaben.
Am Anfang war das Wort.
Ich sage das und denke, vor dem Wort müssen die Silben, müssen die Buchstaben, müssen Laute gewesen sein. Demnach zerteile ich kleinstmöglich alles Sprechbare, teile hinab und hinauf, teile hinab und hinauf. Zerfalle im Zerlegen selbst, falle hinab, falle hinauf und bleibe nur dort hängen, wo das Sprechbare ungesagt bleibt. Vielleicht sagt einer, Wiederholung, alles nur Nachahmung und immer Selbes. Recht hat er. Aber dort, wo ich nicht wiederhole, muss ich schweigen.
Luftlinie, wenn es die unter Wasser gäbe, ungefähr 200 Kilometer, die uns unterscheiden. Angelschnur ist Angelschnur, die eine etwas dicker für Hochseeangler, die andere etwas dünner, beinah unsichtbar, für die, die im Klaren und Flachen fischen, aber was sie wirklich unterscheidet, ist die Entfernung, ist das Gewässer. Ich habe so gern Gefilde im Haar, sage ich, nicht weil ich es so meine, nur weil es so klingt. Gefilde im Haar. Das ist nicht der Inhalt, das ist das Gesprochene. Geh Hilde und fahr! Manchmal darf ich Dinge nicht ungesagt lassen.



Du beobachtest. Nicht heimlich bist du aber still. „Die Blickrichtung beeinflusst den Abstand.“ Und das hast du wirklich gesagt, zumindest geschrieben, das ist etwas von dem, was mir nicht einfällt, was ich nur erfahre. Dass man voneinander ohne miteinander so viel in Erfahrung bringen kann, wussten wir vorher. Aber das es wirklich geschieht, ist etwas anderes. Von welcher Seite soll ich den Draht zuerst aufrollen, wenn die Welt sich in Daten, Punkten, Funktionen verliert? Wahrscheinlich verliert sie nichts von sich, sondern gewinnt vielmehr, nur für mich, die über die Unbegreiflichkeit der Dinge nicht hinauskommt, ist es ein Verlust.
Aber ich schlage mir „Splitter und Balken“ ins Auge und sehe schwarz-weiß eine Landschaft. Triadische Modelle des Lebens, denke ich mir. Körper, Geist und Landschaft. Wobei Landschaft auch die Anderen bedeuten mag. So kann es ja auch sein, ich existiere als ein Sein zwischen Körper, Seele und der Wahrnehmung Anderer. Oder eben als Ort in der Landschaft. Ließe sich doch die Frage stellen, ob nicht jedes Gemälde nur eine Flucht, ein Fluchtpunkt, aus der Welt gegriffen in die Welt gestellt, sein kann? Wäre es demnach wieder nur Nachahmung oder eigene Existenz. Wieviel Platz würde ein Fluchtkörper, wie meiner, in einem Bild einnehmen, wenn er somit aus der hier wahrgenommen Realität, entschwindet?
Eigentlich wollte ich dir schreiben, und nun schreibe ich doch mir selbst. Auf gewisse Art ist alles Schreiben ein Selbstgespräch. Doch die Einsicht, über die eigene Erkenntnis so nicht hinaus zu gelangen, lässt einen anderen Adressaten, abgesehen von sich selbst, in den Rahmen rücken. Ich bin so herrlich selbstverliebt, gestehe ich hier an dieser Stelle, weil spätestens an diesem Punkt angelangt, der Leser zwischen Fakt und Fiktion nicht mehr zu unterscheiden weiß.



Eine meint, wir bräuchten hier einen Förster, weil das Dickicht zu sehr um sich schlage. Aber ich weiß nicht, ob wir einen brauchen, der Schneisen in den Wildwuchs schlägt, der seine Markierungen wie eine Spur hier und dort am Abrieb der Einzelnen setzt. Ich weiß nicht, ob die Natur eines Schliffs bedarf. Und wenn einer eine Schneise schlägt, dann erinnert das weniger an ästhetische Autonomie, als an selbstherrliche Verwirklichung des subjektiv Schönen. Schließlich wäre ein Förster auch viel zu nah am Geschehen, er sähe den Baum im Walde nicht, nicht die Lichtungen im Kahlschlag. Alles bedarf einer Distanz, aus der heraus sich ein Blick erst erschließt. Die Blickdistanz beeinflusst demnach den Eindruck, die Wahrnehmung und mit ihr die Erkenntnis. Du wirst mir wohl nicht zustimmen, aber das hindert mich nicht, schließlich bin auch ich nur Wild- und Freiwuchs. Aber ich überlege auch über die Blickdichte. Wie nah am Geschehen ist noch längst nicht zu nah? Ab welchem Punkt wird aus dem Nah ein Mittendrin?
Dass ich mich an mich selbst verliere, hängt mit der Selbstherrlichkeit, die ich anderen gegenüber eingestand, zusammen. An mir selbst könnte ich die Frage nach dem Nah oder Mittendrin spalten, allerdings geriete ich so wieder in das Gespräch mit mir selbst derart hinein, dass ich dich vergessen könnte.
Dabei gab es eine Zeit, in der ein Vergessen - mir zumindest - unmöglich schien. Derweil sind wir weiter voneinander, und das sowohl im räumlichen als auch zeitlichen Sinn, getrennt als Parallelen es darzustellen vermögen. Dort wo du bist, grenzt mein Universum an den Rand. Einer sagte mir, ich solle über den Rand auch hinausschauen, aber ich wage es nicht. Das Unerwartete ist immer ein zu lang Erwartetes.

Freitag, 6. November 2009

Eine mögliche Brieffolge:


Ich habe dich grünhäutig im Arm. Vielleicht auch nur in der Erinnerung. Aber wer kann wissen, wie nah oder fern eine Umarmung wirklich ist. Wer kann von den gelebten oder ungelebten Momenten wirklich wissen? Man sagt nicht ungelebt, sagst du, man sagt, tot. Und weil du das sagst, weiß ich, du hörst nicht, du sagst nur und hörst nicht.
Das sind immer nur die Momente, von denen wir leben. Der Moment des Erwachens, der Augenblick, wenn man freudig einen Brief empfangen hat und gespannt den Bogen Papier auseinander faltet. Diese kurze, kaum sechzigsekundige Minute, die ein Kuss manchmal nur anhält, aber tagelang etwas aufrührt. Es sind immer nur Akte in der Zeit, die wir erleben. Und manchmal sagst du, du hast geträumt, während ich an den Fingern die Stunden abzähle und irgendwann auch zu einem Schluss gelange. Kurz Schluss.
Wie deine Haare sich über meine grüne Erinnerung kräuseln, und deine Brust sich an meine schmiegt, weil sie sich nach einer zweiten, einer linksseitigen sehnt. Wie wir so sind und parallel in der Zeit existieren, in Ort und Raum. Meine Haut ist Ort für allerhand, früher fanden sich passgenau deine Lebenslinien darin. Früher fand sich so viel. Aus den Hinterzimmern stürzten wir in die Vorkammern, spannten Segel und …
Kosmonauten waren wir in den Universen des jeweils anderen.


Man sagt Ausbruch, nicht Flucht, sagst du und ich sehe dich brechen, aus dir heraus und denke an die Fluchtkörper. Vater hatte einen, Mutter wollte keinen und ich bin einer. Nur Haut und Flucht. Und wenn wir mit den Buchstaben beginnen zu spielen, den einen durch den anderen ersetzen, setzen wir Veränderung in Gang, schieben zwischen die Universen schwarze Löcher, Zeitschleifen, zwingen Parallele in eine Kreuzung und beginnen uns vielleicht an dem Punkt zu fragen, ob die Existenz von uns oder aber wir von ihr abhängig sind. Aufbruch. Deine gelbe Erinnerung, dein Auftauchen in Fluchträumen.
Vater war wenigstens immerwährend abwesend, inzwischen Mutter ein Hier und Dort war. Dann lieber ganz auf der Flucht, denke ich, als zeitlang auf Zwischenstation. Flucht ist auch eine Art von Gedächtnisverlust. Dass ich nicht weiß, wann und wo wir uns das erste Mal sahen, ist nur zu verständlich. Dass aber du Ort, Zeit und Datum so genau angeben kannst, ist verwunderlich. Zwischen den Jahren, sagt man, und ich meine, zwischen den Leben sagen zu müssen.


Ich sehe dich Briefe schreiben, sehe dich sitzen zwischen Elefanten und Maulwürfen unter Eich und Tieck. Dabei solltest du über Utopien der Unmittelbarkeit nachdenken, solltest lernen und vom Gelernten erfahren und ereignen. Aber ich sehe dich sitzen am Morgen wie im Tag und darauf folgend in der Nacht. Doch wenn einer eine Reise macht, sage ich zu dir über deine Schulter hinweg, sitzt er nicht. Selbst wenn der Gedanke flieht, zieht er den Körper nach, zieht ihn irgendwo aber nicht an die Fesseln einer Stuhllehne hin. Also schreib weiter Briefe und vergiss darüber das zukünftig Vergangene. Bleib mit deinen Federn in den Tagebrüchen der Romantiker stecken. Nimm E.T.A. und H.v.K., nimm A.v.A., nimm den Aufstand und den Rückstand, nimm Platz in einer Mitte, die über die Zeit längst hinaus geschlagen ist. Und vielleicht nimmst du bald die ganze virulente Virtuelle, das surrende Grenzsein zwischen Realität, Mimesis und Unwirklichkeit, nimmst es zwischen die Hautklappen und schlägst es wie eine Eintagsfliege tot.

Sonntag, 1. November 2009

Es ist ein neuer Morgen, ein Monat angebrochen, der von sich wird Reden machen. Ihre Kleider hat sie über die Stuhllehne gelegt, hat alle Spangen aus dem Haar gelöst, ist mit den Händen über ihr Gesicht gefahren und hat dabei unmerklich die Augenbrauen in die richtige Linie gezogen. Sie ist nackt und möchte es am liebsten die nächsten Nächte und Tage bleiben, weil der Winter so einen schönen Schauer über die Haut treibt, sie beinah dazu zwingt, sich in sich selbst zurück zu ziehen, alle Wärme, selbst die restlichste, bei sich zu halten. Der Winter, anders als der jubelschreiende Sommer, ist eine Zeit, die Türen und Fenster schließt, Decken aus den Kommoden kramt und sich in Kissen schmiegt. Der Winter ist eine Zeit für sich, eine Zeit für Alleinseiende, eine Zeit ohne Zwang zur Heiterkeit. Am Abend gab es ein Feuerwerk. Sie sah still vom Balkon zu, sah wie die Leuchtkörper über den Hausdächern explodierten, sah die Menschen geisterhaft durch die Straßen schlendern, sah wie das Abenddunkel sich für die nahe liegenden Tage bettete. Es wird nicht mehr hell werden, dachte sie am Abend, nicht mehr dieses Sonnenhell.
Sie war fünf, als sie mit dem Vater das erste Mal über das Wasser lief. Der See war gefroren und durch das Eis konnte sie die Pflanzen im Wasser sehen. Bäuchlings lag sie auf dem See. Mund und Nase schmolzen kleine Wölbungen in das Eis, aber darunter lagen eingeschlossene Luftblasen. An die Luftblasen hatte sie immer denken müssen, die Luftblasen hätten den Vater doch retten müssen, aber er hatte wahrscheinlich nicht gewusst, wo sie waren und wie er sie hätte atmen sollen unter Wasser. Denn als es laut krachte und mit einem Mal der Vater nicht mehr auf dem Eis, sondern darunter zu den Pflanzen gelangte, war niemand außer ihr da. Niemand, der gewusst hätte, den Vater zu den Luftblasen zu lenken, niemand der gewusst hätte, dass die nasse Kälte nur Minuten braucht. Der Winter ist auch deswegen eine Zeit zum Alleinsein, denkt sie, weil er die Menschen um einen herum schluckt. Er nimmt sie in sich auf, als wäre er die frierende Haut, die alles in sich zurückzieht, um auch die restlichste Wärme bei sich zu halten. Ihr Vater selbst war für sie zum Winter geworden. Auch deswegen steht sie nackt in der klirrenden Kälte, es ist wie damals, als sie stundenlang reglos auf dem Eis lag und sah, wie ihr Vater zu den Pflanzen, nicht aber zu den Luftblasen gelangte. Und es tut so weh, kalte Luft zu atmen.
Die Kleider über der Stuhllehne sind Sommerkleider, es ist auch ein Stuhl für den Sommer auf dem Balkon. Nur noch kurze Zeit, dann muss sie zurück, muss in die Wärme der Räume, der geschlossenen Fenster und Türen. Denn inzwischen weiß sie, die nasse und auch die trockene, klirrende Kälte braucht nur kurze Zeit. Im Warmen erholt sich die zusammengezwungene Haut, erholt sich auf schmerzhafte Weise, bekommt Risse und Furchen. Es ist keine Zeit für Berührungen, die kalte Haut ist auch eine Zeit für Alleinsein, für Berührungslose. Denn allem Kalten, dem man mit Wärme entgegenkommt, geraten Schmelzwunden ins Sein.