Sonntag, 1. November 2009

Es ist ein neuer Morgen, ein Monat angebrochen, der von sich wird Reden machen. Ihre Kleider hat sie über die Stuhllehne gelegt, hat alle Spangen aus dem Haar gelöst, ist mit den Händen über ihr Gesicht gefahren und hat dabei unmerklich die Augenbrauen in die richtige Linie gezogen. Sie ist nackt und möchte es am liebsten die nächsten Nächte und Tage bleiben, weil der Winter so einen schönen Schauer über die Haut treibt, sie beinah dazu zwingt, sich in sich selbst zurück zu ziehen, alle Wärme, selbst die restlichste, bei sich zu halten. Der Winter, anders als der jubelschreiende Sommer, ist eine Zeit, die Türen und Fenster schließt, Decken aus den Kommoden kramt und sich in Kissen schmiegt. Der Winter ist eine Zeit für sich, eine Zeit für Alleinseiende, eine Zeit ohne Zwang zur Heiterkeit. Am Abend gab es ein Feuerwerk. Sie sah still vom Balkon zu, sah wie die Leuchtkörper über den Hausdächern explodierten, sah die Menschen geisterhaft durch die Straßen schlendern, sah wie das Abenddunkel sich für die nahe liegenden Tage bettete. Es wird nicht mehr hell werden, dachte sie am Abend, nicht mehr dieses Sonnenhell.
Sie war fünf, als sie mit dem Vater das erste Mal über das Wasser lief. Der See war gefroren und durch das Eis konnte sie die Pflanzen im Wasser sehen. Bäuchlings lag sie auf dem See. Mund und Nase schmolzen kleine Wölbungen in das Eis, aber darunter lagen eingeschlossene Luftblasen. An die Luftblasen hatte sie immer denken müssen, die Luftblasen hätten den Vater doch retten müssen, aber er hatte wahrscheinlich nicht gewusst, wo sie waren und wie er sie hätte atmen sollen unter Wasser. Denn als es laut krachte und mit einem Mal der Vater nicht mehr auf dem Eis, sondern darunter zu den Pflanzen gelangte, war niemand außer ihr da. Niemand, der gewusst hätte, den Vater zu den Luftblasen zu lenken, niemand der gewusst hätte, dass die nasse Kälte nur Minuten braucht. Der Winter ist auch deswegen eine Zeit zum Alleinsein, denkt sie, weil er die Menschen um einen herum schluckt. Er nimmt sie in sich auf, als wäre er die frierende Haut, die alles in sich zurückzieht, um auch die restlichste Wärme bei sich zu halten. Ihr Vater selbst war für sie zum Winter geworden. Auch deswegen steht sie nackt in der klirrenden Kälte, es ist wie damals, als sie stundenlang reglos auf dem Eis lag und sah, wie ihr Vater zu den Pflanzen, nicht aber zu den Luftblasen gelangte. Und es tut so weh, kalte Luft zu atmen.
Die Kleider über der Stuhllehne sind Sommerkleider, es ist auch ein Stuhl für den Sommer auf dem Balkon. Nur noch kurze Zeit, dann muss sie zurück, muss in die Wärme der Räume, der geschlossenen Fenster und Türen. Denn inzwischen weiß sie, die nasse und auch die trockene, klirrende Kälte braucht nur kurze Zeit. Im Warmen erholt sich die zusammengezwungene Haut, erholt sich auf schmerzhafte Weise, bekommt Risse und Furchen. Es ist keine Zeit für Berührungen, die kalte Haut ist auch eine Zeit für Alleinsein, für Berührungslose. Denn allem Kalten, dem man mit Wärme entgegenkommt, geraten Schmelzwunden ins Sein.

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