Dienstag, 30. September 2008

Fluchtpunkte.

Seine Haare sind hoch gewachsen. Normal würde man sagen, er sei hoch gewachsen, aber an ihm sind es nur die Haare. Hier in diesem Raum ragen sie um seinen Kopf wie fades Schilf um einen leblosen See. Ich kann mir darin ein leises Rauschen vorstellen, ein Wehen und Winden, eines, was sich nicht getraut auszubrechen. Denn einmal aus dem Schutz der mannshohen Röhren ausgebrochen, würde ein Wehen, ein Winden vom Tosen erfasst zu einem unzähmbaren, wilden, einem Toben und Blasen. Das wiederum kann ich mir um diesen lebensstillen Kopf herum nicht vorstellen.
Es ist sein Raum, in dem ich mich mit Mühe bewege, weil jede Auffälligkeit ihn aus der Ruhe reißen könnte. Er sitzt und denkt, vielleicht an die Jahre vor unserer Bekanntschaft, an diese Zeit ohne Dauer, als die Sonne ihn morgens nicht störte und er noch bis weit in den Tag hinein schlief. Wenn man ihn aus der Ruhe reißt, beginnt er im Raum zu schwanken und man ist so wenig sicher vor ihm, wie vor einem im Erdbeben wankendem Hochhaus. Unermesslich ist die Sicherheit des eintretenden Todes. Diesen Raum hat er sich erkämpfen müssen, sagte er, als ich ihm verwundert gestand, mich trüge mein Empfinden nicht und ich vermute, er hätte eine Kammer angebaut. Irgendwoher wehte Wind zwischen unsere Beziehung, ich wusste, da waren diese Gefühle, die er nicht zugab, die aber doch eines Platzes bedurften und er räumte. Ich fühlte ihn Kisten füllen, etwas von uns zwischen uns stauen, und er trug es davon, dorthin, woher es windete. Er war aus unserem Zweiraumdasein ausgebrochen, hatte heimlich angebaut. Erkämpft, wie er sagt. Eine Notwendigkeit, eine Feuertreppe, ein Fluchtweg, dem ich den Rechtsanspruch nicht nehmen konnte. Mit keinem Wort, keiner Geste, keiner Empfindung. Ich ließ ihn stückweit und ergab mich seinem Kämpfen.
Seither diese Kapsel, dieser für mich luftleere Raum durch den ich mit allem Bedacht nichts zu berühren, wie in einem Raumanzug schwebe. Atemlos durchstreife ich seine Galaxien, seine Weiten auf engstem Raum, auf einem Grenzstück, das nicht zwischen, nicht zu uns gehört, sondern nur ihm. Sein Anspruch auf plötzlichen Rückzug, unbegründbares Verschwinden.
Er sitzt und nimmt mein Schweben an ihm vorüber gar nicht wahr. Vielleicht auch, weil ich unsichtbar für ihn bin, sobald er das Gebiet, was uns zwei zusammenzählt verlässt. Für ihn existiere ich nur an Ort und Stelle unserer Kreuzpunkte. Koordinaten in seinem Lebesystem. Meine Existenz tritt nur an Grenzpunkten in Kraft. Darüber denke ich während des Schwebens nach, und darüber, ob ich der erste Mensch sein werde, der diese Landschaft betritt, der erste, der seinen Fußabdruck setzen und für die Ewigkeit hinterlassen wird. Mein Stiefeltritt. Ganz klein für mich, kein Akt, keine Gewalttat, nur ein Versehen, viel mehr ein Betasten unbekannter Regionen. Über Beschaffenheit und Art konnte ich nichts gewusst haben, demnach die Folgen nicht vorhersehen, mit den Konsequenzen nicht gerechnet haben.
Dieses lange, nach Oben wachsende Haar, wie es Stille einkerkert, diesen leblosen Kopf noch rahmt, als gelte ihm eine besondere Aufmerksamkeit. Hier am Flucht-, am Ausgangspunkt zu fremden, von Menschen völlig unbekannten Welten. Keine Gewalttat, nur ein Tritt im unbestimmten Raum, ich konnte nicht wissen, dass es ein Kreuzpunkt, eine Schnittstelle unserer Leben war, sein Kopf, mein Stiefel.

Sonntag, 21. September 2008

Ich bin zurück, bin der Sprachlosigkeit, in die ich geraten war entkommen, habe mich aus ihr in meine Sprache zurück gewunden. In die Gefilde einer fremden Sprache zu gelangen, ist dem Ankommen in einer unbekannten Großstadt gleich. Es gibt kein Oben kein Unten, kein Rechts oder Links, man ist einem Wirrwarr aus Wegen ausgeliefert, einer Vielzahl an Fortbewegungsmöglichkeiten, und in keine getraut man sich hinein, weil man sich nicht auskennt. In welche Richtung soll man fliehen ist das Ziel eher eine Vorstellung als eine Idee?
Anfangs ist man von der Andersartigkeit befriedigt, lässt sie auf sich wirken, als streiche eine warme Hand über fröstelnde Haut und Haar. Sie ist Verzierung, diese von einem selbst unverstandene Sprache, weil sie melodisch, rhythmisch ganz eigen klingt. Das fällt auf, weil das Vertraute der eigenen Sprache das Sichtspektrum trügt. Vertrautheit ist, unerkannt, eine der schmerzfreiesten Arten des Erblindens.
Der empfundene Sprachverlust erscheint mir jetzt, da ich zurückgefunden habe, ebenso ein Zeitverlust. Unbekümmert, was Tag, Stunde oder überhaupt was Orientierung in der Zeit angeht, verging ebendiese. Unüberschaubar. Ich landete morgens, obwohl es Abend war, ich trank zu Kaffee, während die Übrigen speisten, ich ging zu Bett, brach sich der Tag aus schattigen Nachthüllen. So verging um mich herum nur das eigene Leben wirklich wahrnehmbar. Auf der Haut spürte ich die Vergänglichkeit, wie sie von mir Gebrauch machte, mich in Besitz nahm. Zeit- und atemlos blieb ich, ohne nur ein Wort nach Außen, ins Unverstehliche hinein zu richten, blieb schweigsam sterbend.

Wie einen hungrigen Hund sah ich einen Mann Mülltüten zerfetzen, Tonnen umstoßen, im weggeworfenen Rest anderer suchen. Er war auf Beutefang, seine Hände zu Krallen ausgerichtet, sein Blick animalisch und doch analysierend, genau beobachtend, was die Fangarme griffen, aus dem stinkenden Dunkel ans Tageslicht zogen. Diese zu Klauen gewordenen, fetzenden Hände. Schließe ich die Augen, sehe ich sie Menschenbilder zerreißen. Bei lebendigen Menschenleib zur Kreatur werdend.
Ich saß innenwendig und fürchtete den Schritt auf die Straßen, die belebt waren und von Innen wie überlaufene Ameisenwege schienen. Klein und viel beschäftigt kroch einer über den anderen, sich nicht aneinander, an der unausstehlichen Körpernähe störend, so dass jedes einzelne Menschenwesen mit den Übrigen zu einer zähen Masse verschwamm, die kein Durchdringen eines Fremden erlaubte. Entweder man würde mit dem fließenden Menschengeschlecht Eins werden, oder man bliebe, wo man ist. Wie Strandgut bei abklingender Flut, man bliebe Wurfgut der Ebbe, den geiernden Möwen dargereicht.

Donnerstag, 4. September 2008

Ich schweige mich durch das nächste Lied und betrachte die Übrigen die Lippen dazu bewegen. Als wären sie mit gefalteten Händen und ihren lächerlichen Lippen dem Himmel näher als sonst auf der Straße, irgendwo zwischen Nerz und Vogeldreck. Ich trage unter der Baumwolle immer ein Federkleid, man kann ja nie wissen, wann es soweit ist, wann man sich dem Wurzelwerk entziehen, aus der Erde und in die Luft hinein brechen wird. Man kann nicht wissen, wann der Übergang einsetzt, und es sind immer die Übergangsformen, die die nächste Stufe ankündigen. Jeder höhere Schritt geschieht Art übergreifend.

Die eigene Art überwindend.

Mittwoch, 3. September 2008

Dass sich in der Sprache unsere Verletzungen zum Ausdruck bringen, habe ich gelesen, oder viel mehr wurde mir vorgelesen. Ich weiß nicht, ob ich was ich höre, glauben soll oder der Unterstellung, die Ohren seien wenig vertrauenswürdig nachgebe und lächelnd abwinke.
Man hört auch, was einmal ausgesprochen ist, sei tief im Innern geheilt, zumindest in Anfängen im Heilungsprozess. So könnte ich mir Sprache als Verband, als Heil- und Wundsalbe vorstellen. Und sofort assoziiere ich mögliche Inhaltsstoffe mit der dazugehörigen Allergie, wie die Linderung tiefer schürfend Unheil stiftet.

Sprich nicht alles aus! Mahne ich mich.

Manche Menschen fahren einem wie mit einem Panzer über den Mund. Früher stand ich unfassbar wenige Sekunden still, bevor sich meine Lippen in Zuckungen wieder zu regen begannen. Heute bleibt alles brach. Irgendwann gedeiht auch kein Kraut mehr.

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Ich fürchte Zahnärzte und versuche derlei Arztbesuche zu vermeiden. Jahre kann eine solche Meidungsstrategie gut gehen. Aber am Montag stellte ich mich all meinen Ängsten, die nach Terminvereinbarungen wie wilde Meutetiere über mich herfallen. Ich habe sie alle in die Falle gelockt, mich auf den Zahnarztstuhl gesetzt und sie in der Mundhöhle vergiften lassen.

HAH!

Jedenfalls hatte ich bisher noch nie einen solchen Zahnarztbesuch erlebt. Alle nett, ich im Mittelpunkt, eher mein Gebiss. Röntgen, Reinigung, oben Abdruck, unten Abdruck, Beratung und Überweisung zum Kieferchirurgen. Niemals verbrachte ich eine Stunde in einer Arztpraxis. Fazit. Meine Ängste sind im Gift schmaler geworden, nähren sich allerdings bereits an der Aussicht auf bleibende Helle für sie, denn ihre Sonne geht, bei dem Gedanken an Weisheitszahnentfernung, strahlend auf. Sie erklimmt den Himmel und brennt leuchtend heiß, setzt Nährboden für jederlei Angstvorstellung. Strahle! Strahle! Strahle!

Gesichtschirurgie steht auf der Visitenkarte. Erstmals wird mir im Zusammenhang mit Zähnen das Gesicht bewusst. Mit verschlossenen Lippen sind die Beißapparate dem Gesicht nicht zugehörig. Wie plötzlich sich mit dem Öffnen der Schleusen die Einsicht der Ansicht ändert.

Dienstag, 2. September 2008

Dem aus Afghanistan ist die Frau nun endgültig abhanden gekommen. Ich sagte ihm, Frauen kommen abhanden, gewährt man ihnen Spielraum, möge er auch noch so klein sein. Und er hatte um sich eine ganze Spielwiese für sie ausgemessen und abgesteckt. Vielleicht nicht einmal abgesteckt, nur die überschreitbaren Grenzen angedeutet.

Nun sitzt er, der die Wüste mit ihren romantischen Sonnenuntergängen nur Dreck und Staub nennt, neben mir und sieht dem Sand so ähnlich. Feinkörnig könnte ich ihn durch meine Hände rieseln lassen, aber ich möchte keine Sandburgen zwischen meinen Beinen.
Der mit dem Waffenschein und der Schießberechtigung hockt hier und heult Rotz und Wasser. Ich überlege, ob ein Soldat im Kampf nicht bessere Figur machte, so ungern ich daran denke.

So ein Häufchen und die Waffe stakst oben wie ein Appell, hier einnehmbar, heraus.