Samstag, 30. August 2008

Meinem Onkel, dem Helden mit dem Puzzleschädel ist abermals das Gesicht aufgeklappt. Stahlträger sind nicht seine Stärke. Frontaler Zusammenstoß und schon klaffte die Narbe über dem Nasenbein hinaus über die Brauen im Offenen. Als hätte ihn jemand zur Ausgrabungsstätte erwählt, lagen alle Knochen frei. Fein säuberlich beinah, wäre die Sauerei mit dem Blut nicht.

Ich liege längst nicht mehr auf den Dächern, lauere nur dem Gestank auf, der durch die Ritzen und Brüche im Mauerwerk auf die Straße hinaus tritt. Große fette Füße in ledernen Stiefeln. So stelle ich mir den Gestank nach verwestem Fleisch vor. Fettleibig und schwerfüßig. Die Kleineren unter den Wölfen werden reißfest.

Man trifft sich im Invalidenhof. Mein Vater mit dem zerschossenen Bauch, mein Onkel mit der Ausgrabungsstätte im Gesicht, die anhängende Familie mit diesen fremdeigenen Blicken. Ich bin nicht zielsicher, deswegen bin ich am Hof vorüber und geradeaus weiter gelaufen, habe die einen und die anderen links liegen, hinter mich geraten lassen. Alles Vergangene, gerät hinter einen, oder man selbst gelangt darüber hinweg, hinaus. Man rückt sich selbst in Ferne. Mit allem und jedem geschieht etwas, so auch mit mir. Ich gerate hinein in das Familiensystem und hinaus. Finde keinen Halt, um zu bleiben, keinen Ort, keine Stelle. Alles greift ineinander, nur ich greife daneben und pendle haltlos weiter.

Man meint, in der Ferne hat man allen Grund das Nahe zu umgehen, man meint, allem Nahen entkommen zu sein. Doch das ist nur Trug, denn in Wahrheit ist kein Entkommen möglich, außer man geriete aus sich selbst, aus der eigenen Haut, aus dem eigenen Sein, dem inneren Hier und Jetzt. Man müsste in der Lage sein, sich seiner selbst fern zu kommen. Das mag an die Erzählungen und Berichte erinnern, die behaupten, Menschen seien in bestimmten Situationen aus sich selbst gekehrt, betrachteten das Geschehen um ihren Körper wie aus der Höhe, von Oben herab, als wäre der Körper allein weniger wert. Doch auch das ist Blendwerk, denn schneidet man mit einem Messer unter die Haut, sind sie alle noch dort. Ganz nah am eigenen Herzen. Schließlich ist es zumeist das, dem die Menschen zu entkommen suchen. Den Herzkammern mit ihren Schrecken und Finsternissen.

Mittwoch, 27. August 2008

Ich fliehe mich von einem Moment in den nächsten, in ganz leiser Hoffnung, die Gedanken beschäftigt, ihnen keinen Freiraum zum Driften gewährt zu haben. Denn wenn sie es täten, sie kämen abhanden, und abhanden gekommene Gedanken treiben einen, wie Wölfe vor einem her, treiben einem Irrsinn und Emotion durch den Leib. Man geriet in Tränen, in Ausbrüche, in Unhaltbares.

Und dann irgendeiner. Der wirft die Angel mit den Widerhaken, reißt und holt ein.

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Randfiguren. In einem Buch stelle ich mir kleine Strichzeichnungen, wie ich sie früher in Schulhefte und auf Tische malte, vor. Dicht an den Rand, fast von der Seite, aus dem Buch hinaus gedrängt, knapp vor dem Abgrund, vor dem Sturz in die äußere Wirklichkeit. Ich habe keine Vorstellung, weder von der inneren noch von der äußeren Wirklichkeit sowie den Überlebenschancen in jener oder anderer, noch von der Lebenswut solcher Randbeispiele.

Dabei spielt sich, so eine Floskel, das Leben jederseits auf Messers Schneide ab. Und zeige mir einer eine schärfere Kante, einen feiner linierten Rand.

Wohin also stoßen wir, springen wir von Messers Schneide?

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Jeder Grundschritt lässt sich in eine Promenade öffnen. Man flaniert in vorgeschriebener Schrittfolge und gewinnt plötzlich, ohne großes Zutun an Eleganz. Die Feinheiten schleichen sich ein, geben dem Körper ein neues Maß an Haltung, der Mimik entlocken sie versteckte Mittel zu unbekanntem Ausdruck.

Beim Tanzen geriet man in innere Randgebiete. Öffnet man den Körper dem anderen, gibt man sich der Führung hin, gestattet man die Führung überhaupt. Wagt man, der Folgenden mit Kraft und Schritt den Weg vorweg zu nehmen, erlaubt man das Anlehnen an die eigene Bestimmtheit. Zwischen den Tanzenden besteht eine halb durchlässige Membran, an der ungesehen der Informationsfluss fließt. Und erstarrt dieser, erstarrt das tanzende Paar.


Ende der Schrittfolge. Absprung von Messers Schneide.

Dienstag, 26. August 2008

Eine ungreifbare Leere. Und das, weil ich als Letzte, als Zurückgelassene den Laden verlassen habe. Einen so einsamen Augenblick habe ich selten erlebt. Oder auch bewusst empfunden. So wie es ist. Das Zurückgelassenwerden.

Zwei U-Bahnen fuhren mir weg, weil ich aus dem Empfinden nicht schnell heraus und der Bahn hinterher kam. Es war unmöglich mich schnell zu bewegen. Als hieße Einsamkeit immer auch Atemstillstand. Stillstand überhaupt. Stummheit ist auch nur eine Starre des Redeflusses. Alles, was in einem fließt, erstarrt.

>Irgendwie ist er wie ein Fisch<

Den Satz habe ich gelesen und fand ihn so passend, zum im Buch beschriebenen Mann, aber auch zur Situation, die sich um mich herum bot. Ich weiß nicht zu sagen, weshalb ich es so sah. Aber diese eine Aussage bestätigte in diesem Moment einfach alles.

Stromlinienförmig. Vielleicht das. Ja.

Fische, die in Schwärmen schwimmen werden mit einer Sehne, an der mehrere Haken ködern geangelt. Man zieht die Fangschnur durch das Wasser, durch den silberfeinen Fischschwarm, reißt die puren Haken durch Flossen, Kiemen, Rachen und zieht einen nach dem anderen an der Schnur heraus. Ich stelle mir vor, wie eine solche unsichtbare Sehne vom Himmel greift und durch die beladene Einkaufstraße spannt, wie sich die Widerhaken in Arme, Beine, in einen Rumpf hinein bis in die Herzen reißen. Und dann, dann hole ich die Leine von der Kirchturmspitze her ein. Einen nach dem Anderen.

Auch die, die mich zurücklassen.

Samstag, 23. August 2008

Nachtschwärmer und andere Insekten

Im Haus wohnen neben Kauzen noch Nachtschwärmer, die sich gegen Sonnenuntergang in Richtung jeglicher Lichtkegel bewegen. Sie überdauern den Tag, um sich nachts an künstlichen Quellen zu berauschen. Ich habe Einen Nachtblut verlieren sehen. Es war am Briefkasten, da sah ich den ersten Tropfen und folgte der Spur durch das Treppenhaus. Dass ich um diese Uhrzeit noch unterwegs war, hatte ich dem unglücklichen Umstand, meine Schlüssel verloren zu haben, zu verdanken. So stand ich also vor verriegelter Türe und wusste nicht, wie ich herein, noch wie ich aus dieser Situation herauskommen sollte. Die Treppe bot sich mir als Gelegenheit auf Nachbarschaftshilfe zu hoffen. Gut gehofft, wie ich jetzt sagen würde, gut gehofft ist wie schlecht verloren. Man grämt sich. Und als mich der Gram schon längst überschwemmt hatte, kehrte ich, auf den frühen Wurm wartend, zu den Briefkästen. Wie lange hatte ich keine Post mehr erhalten. Und wenn ich herausfände, wer täglich meine Briefe las und einsteckte, würde sich das Schauspiel aus der Tragödie zur Komödie wenden. So dachte ich. Und dann sah ich das Nachtblut. Tropfen für Tropen, lief ich Stufe um Stufe gesenkten Kopfes, den Blick am Boden festklebend. Es war anders, nicht rot und zäh, es schien beinah durchsichtig und gläsern. Nein, gallertartig, so als könne man mit dem Finger hineindrücken, die Form verändern, doch sobald man den Finger zurück zöge, geriet es wieder in dieselbe Form. Ich wagte nicht, auch nur einen Hauch von mir selbst mit diesem Zeug in Berührung zu bringen. Alles schien, wie uns auch das Zeitvergehen als Lebensdauer erscheint. Man dreht an der Uhr, und gelangt doch immer wieder an denselben Punkt der Ewigkeit, an die Gegenwart. Diesen einen winzig kleinen Fleck im Raum. Anderswo wäre es wohl nicht auszuhalten. Ist es das, was uns die Einschränkung beteuern möchte? Die Möglichkeit zwischen Hier- und Jenseits?

Stufe um Stufe war ich nun ungesehen in die obersten Stockwerke gelangt. Ich schaute, sah nichts, nur das Nachtblut, das den Boden verschmierte und auf welches hier Oben jemand Zeitung verteilt hatte, wohl im Glauben, das Papier sauge auf. Stattdessen aber sah es aus, als wäre etwas in der Lache verschieden. Überschwemmt. Ich stob mit dem Fuß den Nachrichtensumpf auf, wollte nachsehen, ob sich darunter etwas verbarg. Doch es tat sich nichts, nur ein Surren drang von irgendwo her. Nachtschwärmer, dachte ich, geraten immer an die Falschen.

Ums Leben kommen. Das klingt nach einer Erleichterung, als könne man sich glücklich schätzen, um die Herausforderung LEBEN herum gekommen zu sein. Das klingt wunderbar in Anbetracht der Schrecken, die das Leben birgt. Und wenn wir uns im unbestimmten Kosmos um das Leben bewerben, betonen wir sicherlich – das alles ist unbegründete und reine Spekulation – unsere Tendenz zur Herausforderung. Wir möchten uns den immer nächsten Schritten stellen. Kontaktfreundlich, eloquent, selbstständig arbeitend, Herausforderung liebend. Schlagworte, die wie die Faust auf das untrügliche Auge passen.

Soundsoviele Menschen sind bei dem Unglück ums Leben gekommen.

Sie alle wollten, müssen nun jedoch die Aufgabe nicht mehr bewältigen. Schreck Ade !

Mittwoch, 20. August 2008

Es ist lange nach der Zeit. Der Sommer ist weiter gezogen und nur selten Sommerliches hängt ihm nach. Alles andere ist unverändert. Die Ideen über Sprache finde ich allerorts bestätigt, was mich einerseits freut, andererseits beschämt, weil ich mein Anrecht auf Urheberschaft abzulegen habe. Als hätte ich es für möglich gehalten, dass wortaffine Menschen nicht schon längst Selbiges detaildichter durchdacht und kundgetan haben.

Worin ist die eigene Klugheit, von Dummheit kann bei keinem Menschen die Rede sein, worin also ist die eigene Klugheit von der Anderer zu unterscheiden? Von der angewandten Kunst sie an Ort und Stelle in Gebrauch zu nehmen, sie offen zu legen oder tief im Verborgenen zu halten? Nur darin unterscheidet sich die individuelle Handhabung, die Anwendung nicht aber die Klugheit selbst. Ausgebreitet in Zeit und Raum ist es doch wenig verwunderlich, dass ein Kopf eher auf die Lösung einer Gleichung stößt als der andere. Es bedeutet nicht, dass der zweite Kopf weniger klug ist, sondern dass er sich anders durch Raum und Zeit bewegt, seine Klugheit anders ausdehnt. Ob dies jeweils zu seinem Vor- oder Nachteil geschieht, sei hier unbetrachtet.

Nimmt man das Leben, damit meine ich den Organismus Mensch, unter eine biochemische Lupe, ist es wie ein Blick durch ein Kaleidoskop. Man erkennt Formen und Farben, Anziehung und Abstoßung, man sieht ein in sich funktionierendes Zellwirrwarr, ein unbegreifliches System und sollte vom wissenschaftlichen Blick des Zaubers beraubt sein. Stattdessen glotzt man fasziniert auf das, was man nicht versteht und dreht das Glas, um das Unverstandene noch ungreifbarer zu machen.


Rückblick in den Juli

Das Leben zwischen den Leben ist ein anderes geworden. Seit Tagen streunen Stunden durch die Zeit, die weder zu mir, noch zu sonst einem mir vertrauten Menschen zu gehören scheinen. Zeit hat keinen Umfang. Eine Stunde ist jede Stunde dasselbe Maß an Minutenschlägen. Die Zeit an sich aber ist maßlos.

Über die Dächer schleicht dunkles Grau. Der Regen hat es über die Stadt getragen. Die mich umgebenden Dächer verschlingen lebende Tauben und geben sie nicht mehr frei, höchstens ein Mensch kehrt einen Kadaver nach Wochen aus den Dachstuben. Ich habe Vogelvieh sterben sehen. Die Dächer sind nah, sind unabdingbar nah.

Kleine Wölfe streunen durch die Stadt. Sie reißen Tauben und werden lüstern. Sie tanzen und jedes Bein hat dem dazugehörigen einen Schritt voraus zu setzen. Wölfe tanzen vierbeinig und wenn sie reißen, dann beißen sie vollzähnig ins Fleisch eines Lebendigen.

Mein Onkel, einer von einigen, aber der einzige, den ich mag, ist mit der Leiter gestürzt und mit dem Kopf auf einem Stahlträger gelandet. Die Leiter auf ihm. Der Strahlträger hat seinen Hinterkopf, die Leiter sein Gesicht zertrümmert. Darüber mag ich nicht nachdenken, denn Nachdenken hat etwas mit Vorstellung, und Vorstellung mit Bildmachung zu tun. Ich stelle mir die Zertrümmerung vor, und wie aus dem Stahlträger eine Metallplatte wird, die Stirn und Wangenknochen ersetzt. „You make me cry and put me down“

In der Nacht, wenn sie in Scharen durch die dunklen Straßen ziehen, heulen die Wölfe. Ich bin gerufen worden, wie man einen Menschen um Hilfe ruft. Mit dem Gewehr im Rücken schleiche ich über das Grau der Dächer und versuche unsichtbar für die gelbgrünen Wolfsaugen zu sein. Sie sind glatt rasiert. Um die Augen, um die Brust, um die Schwanzspitze.

Unverwandt sind unsere Sprachen. Die der Wölfe und jene, in der man mich gerufen hat. In dieser Sprache der Furcht, diese Sprache, der ein Klageton eingebrannt immer voraus ist. Noch bevor die Münder sich formen, klingt ein Ton wie Herzweh aus ihnen hervor. Die Wölfe, und auch die kleinen dagegen, sprechen ohne Zögern, ohne Angst, ohne Zweifel. Sie schreien und heulen alles Verlangen aus sich heraus. Sie scheren sich nicht um die Ohren, an die ihre Sprache dringt. Sie scheren sich nicht um anderes Wohl oder Unwohl. In Ansätzen bin ich mit dieser unverwandten Sprache aufgewachsen. Ich verstehe das Heulen der kleinen wie der großen Wölfe. Und deswegen bin ich auf der Jagd, bin ihnen auf den vierbeinigen Fersen, bin hinterher.

Meinem Onkel haben sie bei örtlicher Betäubung das Gesicht aufgeklappt, um die zersplitterten Knochen gegen Metallplatten auszutauschen. Gänzlich konnten sie ihn nicht betäuben, denn Sauerstoff war in sein Gehirn gelangt. Das Risiko, er würde nicht mehr aufwachen zu groß. Risikoscheue Ärzteschaft. Er hat von der Operation erzählt, weil er dabei war, bewusst anwesend. Unter dem Skalpell bei lebendigen Leib offenen Auges. Damit ist er für mich zum Helden geworden. Mein Onkel mit dem zertrümmerten Schädel, mit Metall statt Knochen im Gesicht, unter der Haut, wo sonst kaum einer hinschaut. Wie sie ihn aufgeschnitten, die Haut, die Knochensplitter beiseite und ihn wieder zusammengesetzt haben. Das stelle ich mir vor, abends, wenn ich die Augen schließe, morgens, wenn ich sie öffne. Den Puzzleschädel.

Wenn man einen von ihnen trifft, bleibt er der Meute zurück und man kommt ihm näher als bis auf die Fersen, man geriet plötzlich aus der Verfolgerdistanz in Beißnähe. Man erreicht jene Gefahr, welche den angeschossenen Wolf selbst schon längst erreicht hat. Lebensnot.

Ich liege mit dem Rücken zum Dach. Über mir Vögel und ich sehe sie wie Fliegen durch mein Sichtfeld gleiten, stelle mir vor, ich liege bäuchlings auf dem Eis und beobachte Fische durch milchiges Glas. Es ist kalt geworden. Außerhalb. Warm spüre ich den Blutfluss in mir, wie er treibt und fortschwemmt. Alles aus dem Herzen hinaus.

Den angeschossenen Wolf habe ich mir über die Schulter gespannt und später dann eingekerkert. Er liegt unter dem Dach und lässt nichts von sich hören. Er schläft oder stirbt. Kaum einer gibt beim Sterben einen Ton von sich. Weder Mensch noch Wolf. Alle schön still, als würde der Tod sie so nicht finden. Als fiele er nach dem Gehör über einen her. Dabei krepieren die Stillen. Nur die Lauten bleiben verschont. Zu denen, die brüllen, kommt keiner.

Samstag, 16. August 2008

Über den Dächern hängt der Morgen. Ich bewege mich in kaum merklichen Schritten durch das schlafende Haus. Ich bin dem auf den Fersen, der eine Freude daran hat, unsere Namen zu zerstören. Tag für Tag das gleiche Spiel. Ich gestalte die Klingel, den Briefkasten mit Identität und Zugehörigkeit, ein anderer, der, dem ich durch die Morgenstille hinterher bin, zerkratzt, zerreißt und zerstört diese. Mutwillig. Ein solcher Mensch ist mir bisher nicht unterkommen. Den Ärger darüber habe ich vor einiger Zeit verloren. Mit der Kraft ist er abhanden gekommen, ich bin geduldig und zeichne Tag für Tag schönere, beständigere Identitäten. Regen- und Reißfeste.

Ich werfe mir verbale Masturbation vor. In aller Ernsthaftigkeit, in aller nicht vorhandenen Strenge beginnt jeder Tag mit dieser Befangenheit. Weshalb sollte ich Gegenspieler in meinem Sprachraum dulden, müsste ich nicht jede Minute fürchten, dass ich mit meinen eigenen Worten geschlagen werde? Wobei mir diese Frage das Bild eines Schachbretts vor Augen führt. Die Sprache im koordinierten System gäbe eine interessante Installation. Die Tölpelworte als agierende Bauern an erster Front. Die sparsameren Silben, die bedeutungsschweren verschanzt im hinteren, im letzteren sicheren Eck. Usw.

Die Sonne beginnt wie der Mond ebenso rechts von mir ihren Weltenbummel. Ich beneide sie um ihre Ausgeglichenheit. Ich teste beinah jeden Morgen einen anderen Weg zur Arbeit. Ich schlendere.

Zurück zur Sprache. Wenn es im Sprachkörper Abwehrzellen gäbe (Antikörper, weiße Blutzellen), würden ganze Landstriche von Epidemien wie Umgangs- oder Jugendsprache verschont bleiben, Unworte im Keim erstickt und Sprachfehler ausradiert.

Ob es gut wäre? Was weiß ich. Das ist keine Frage von Gut und Böse, es ist viel mehr eine Frage der Vielfalt, der Möglichkeiten. Der Erschöpfung.

Verbaler Masturbationsvoyeurismus. Voyeurismus ist nicht richtig. Freizügigkeit, Erregung öffentlichen Interesses. Ich schreibe mit dem Wissen, hier liest jemand. Der Gedanke, ob aus Interesse an der Person oder an den Worten gelesen wird, steht aus. Was denkt der Schreibende über den Lesenden, was andersherum?

Leben Schreibender und Leser in einer Art Symbiose? Das wäre gut. Parasitismus? Das wäre auch gut, für den einen, weniger für den anderen.

Mittwoch, 13. August 2008

Die Straße zieht sich durch die Stadt, wie sich alles durch die Stadt zieht. Das Leben, das Altern, das Sterben. Wobei mir das Sterben der Stadt engster Verwandter zu sein scheint. In ihrer Unbegreiflichkeit sind sie einander so ähnlich, unverwechselbar würde ich nicht sagen. Trotz tobenden Lebens herrscht Anonymität vor. Im Leben die des Todes und in der Stadt die jedes Einzelnen. Wir begegnen dem Sterben wie den Nachbarn beinah täglich, aber wir wissen nichts über sie. Und fast sind wir froh darüber, weil wir mit untergehen. In der Masse, im Leben und darüber hinaus.

Vor dem Haus tunneln sie die Straße. Ich schaue wie unterirrdisch Leben entsteht. Wenn ich nachts ruhig liege, höre ich den Herzschlag dessen, was unter dem Haus ins Leben drängt. Ich stelle mir die schmale Asphaltschicht vor, wie sie vom zu groß gewordenen Leib abbröselt. Etwas schält sich aus der Tiefe. Ich aber bleibe liegen und halte die Augen geschlossen.
T., denke ich, er hat sich mit den Übrigen zusammen getan, sie graben sich aus, schälen sich aus der Erde, in die wir sie wie in Wasser hinein geworfen haben.

Kann Freundschaft über das Erträgliche hinausgehen? Und wenn ja, ist es dann noch Freundschaft? Was versprechen sich die Menschen voneinander, wenn sie meinen, Freunde zu sein.

Ich ertrage kaum mehr als zwei Menschen um mich. Gemeinschaft frisst an mir wie eine Made am grünen Blatt. Wenn sie fett und zur Wandlung in Höheres bereit ist, ist von mir nur das Grundgerüst, die Notverzweigung übrig. Meine Augen leuchten schwaches Grün.

Notausgang.

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Sag, siehst du auch den Mond rechts von dir stehen?

Sonntag, 10. August 2008

Regen zieht über die Stadt und jetzt, da ich in den Dächern wohne, spüre ich den Regen bevor er auf den Boden trifft. Ich fühle ihn schon knapp hinter den Wolken. Nur die Kirchturmspitze ist mir Höhen voraus. Bevor der Regen kommt, senken die Vögel ihren Flug, als hätten sie Angst, die ersten zu sein.

Jetzt schlagen die Kirchturmglocken, als wüssten sie von mir und wollten mir beteuern, dass sie immer die Ersteren sein werden. Aber meine Ungläubigkeit hält mich ab vom Geläut der Sirenen.

Frauen gehen immer, sagte ich und meine es so. So, wie ich Vogelvieh habe sterben sehen, sah ich Frauen gehen. Sie kommen und sind bereits beim Bleiben schon in den Anfängen der Folgeschritte. Dem aus Afghanistan habe ich vom Bleiben und Gehen der Frauen erzählt. Und wie ich versucht war, von beinah Allem zu berichten, wurde mir bewusst, was ich tat. Ich streute mein Leben in das anderer. Als ließe sich meine unbewaffnete Seele in seine den Kampf erfahrene übersetzen.

Ich komme nicht mehr zurück, bin völlig aus mir selbst geraten. Alles, was das Leben anbelangt.

Jetzt spüre ich eine Ernsthaftigkeit auf meinem Gesicht, in meinem Kopf, wie sie einen manchmal überkommt, wie sie mir so vertraut ist, die ich aber so lange schon vermisste. Diese angenehme Art in keine Mimik zu verfallen, in keinen Gedankenfluss. Eine Starre, wie sie der Frohsinn nicht kennt, in der man ruhen und geistig sesshaft werden möchte. Beinah nirgends als in mir selbst, finde ich derart zur Ruhe. Eine riskante Ruhe, denn sie ist nur Millimeter von einer besonderen Traurigkeit enfernt.

Samstag, 9. August 2008

Bin von der ewig schlechten auf die immer gute Seite, habe über Nacht das Ufer gewechselt, mit Sack und Pack eine Überfahrt und Landung gestartet. Nun fließt die Zeit aus anderer Richtung und den Fluss erreiche ich kaum noch. Über die Häuser, über die Dächer wie Vögel hinweg. So höchstens noch. Ich lerne vogelperspektivisch zu denken, das heißt, alles rückt in Ferne und damit in ausgedehnte Kleinigkeit.
Heute sagte eine zu mir, bei so vielen Büchern täte es ihr leid um jeden Buchstaben. Ich schwieg, weil an mir auch die Sprache leidet. Wie ich sie mit jedem Wort gebrauche und abnutze.
Über die Schwelle der Ferne kannst du nicht treten. So wie kein Mann eine Frau über eine Schwelle zu tragen schafft, die nicht seine angetraute ist. Das sind kosmische Gesetze, sagst du und rümpfst die Nase. Eine Bewegung, die nichts aussagt, die zufällig in deinem Gesicht stattfindet, weil dort noch ein Freiraum ist. Ich springe über jede Hürde, ob sie fällt oder mich zu Boden reißt, das Spannenste ist der Moment des Absprungs, der nichts über die Landung verrät. Das leise Kribbeln, die strotzende Kraft, die wilde Hoffnung und Entschlossenheit. Ich bin so oft zu Boden gerissen. Du würdest es niedergeschlagen nennen.

Ich aber hüte mich vor deinen Worten.

Die Stadt habe mich verändert, sagst du wie ein Kind quängelt, wenn es keine Geduld mehr aufbringt und die Mutter aus dem Gespräch mit einer Freundin reißt. Du jammerst und bemerkst dich selbst kaum, deine Unerträglichkeit. Wie du an mir zerrst und mäkelst. Zerstreust.

Vor Jahren wärest du mit keiner Frau gegangen. Du hättest mich am Handgelenk gegriffen, zu dir gezogen und hättest deine unergründliche Nase gerümpft. Als könnte eine Frau dich nicht tragen. Über eine Schwelle, meine ich. So hättest du dich aufgeführt und mich mit deinen Anstalten an dich gekettet. Dabei ging ich immer, mit jeder.

Das Geschlecht macht dir die Ferne aus. Das gibst du nicht zu, weil du den Selbstbetrug fürchtest. Niemals habe ich dir eine Furcht angemerkt, ein ängstliches Zögern. Ich staunte über deinen Mut, dein Herz so offen zu tragen. Deine Augen, deinen Mund, deine Ohren. Alles ließ ich, wie du es tatest. Die Ferne zu mir war dir unüberwindbar.

Ich aber hüte mich vor dem Überwindbaren. Ich reiße lieber zu Boden. Die Hürde, mich selbst. Das Leben, wenn es sein muss. Reiße es in tausend und mehr Stücke, in Einzelheiten. Und weil du über die Ferne nicht kommst, liege ich mir selbst zwischen den Beinen, und irgendwann nah am Herzen.

Das, was ich dir als Ferne bedeute, habe ich längst abgelegt.
Ich lasse dich reden, weil mit deiner Stimme auch immer etwas Lebendiges in den Raum tritt. Ich entfernte mich unserer Vergangenheit während du scheinbar noch in ihr weilst, wie in ständiger Gegenwart. Wir beginnen vom Wetter zu reden. Während du das Jetzt und Hier betrachtest, schaue ich schon, was es Morgen geben wird. Und du beginnst französisch zu sprechen und ziehst damit eine weitere Ferne in unsere unumkehrbare Vertrautheit. Du weißt um meine Sprachunfähigkeit und das Gefühl, das in mir aufwühlt, wenn du mich mit Worten in die Fremde führst. In die Irre, wie ich es empfinde.

Menschen sterben, während ich so furchtbar am Leben bin. Ich sage das und warte dein Schweigen, was kein Ende findet, ab. So begegnen wir uns. Die Stille reicht über das Geschlecht, über die Ferne hinweg. Vielleicht, wenn wir immer so schweigsam wären.

Du erinnerst den, der in Afghanistan war. Er war hier in all seiner Männlichkeit. Und so verwundbar. Frauen gehen, sage ich ihm, obwohl er es nicht hören möchte. Nicht so ausgesprochen. Sie gehen immer, selbst wenn sie wiederkommen, sind sie längst gegangen.
Ich stelle mir dein Leben als Worte vor, und du sagst, woraus wir uns denn sonst zusammensetzen, wenn nicht aus den Worten.

Und wie du im Regen Regenwürmer rettest.

Ich habe Angst vor dem Wirkichen, weil es unabwendbar ist.