Mittwoch, 20. August 2008

Rückblick in den Juli

Das Leben zwischen den Leben ist ein anderes geworden. Seit Tagen streunen Stunden durch die Zeit, die weder zu mir, noch zu sonst einem mir vertrauten Menschen zu gehören scheinen. Zeit hat keinen Umfang. Eine Stunde ist jede Stunde dasselbe Maß an Minutenschlägen. Die Zeit an sich aber ist maßlos.

Über die Dächer schleicht dunkles Grau. Der Regen hat es über die Stadt getragen. Die mich umgebenden Dächer verschlingen lebende Tauben und geben sie nicht mehr frei, höchstens ein Mensch kehrt einen Kadaver nach Wochen aus den Dachstuben. Ich habe Vogelvieh sterben sehen. Die Dächer sind nah, sind unabdingbar nah.

Kleine Wölfe streunen durch die Stadt. Sie reißen Tauben und werden lüstern. Sie tanzen und jedes Bein hat dem dazugehörigen einen Schritt voraus zu setzen. Wölfe tanzen vierbeinig und wenn sie reißen, dann beißen sie vollzähnig ins Fleisch eines Lebendigen.

Mein Onkel, einer von einigen, aber der einzige, den ich mag, ist mit der Leiter gestürzt und mit dem Kopf auf einem Stahlträger gelandet. Die Leiter auf ihm. Der Strahlträger hat seinen Hinterkopf, die Leiter sein Gesicht zertrümmert. Darüber mag ich nicht nachdenken, denn Nachdenken hat etwas mit Vorstellung, und Vorstellung mit Bildmachung zu tun. Ich stelle mir die Zertrümmerung vor, und wie aus dem Stahlträger eine Metallplatte wird, die Stirn und Wangenknochen ersetzt. „You make me cry and put me down“

In der Nacht, wenn sie in Scharen durch die dunklen Straßen ziehen, heulen die Wölfe. Ich bin gerufen worden, wie man einen Menschen um Hilfe ruft. Mit dem Gewehr im Rücken schleiche ich über das Grau der Dächer und versuche unsichtbar für die gelbgrünen Wolfsaugen zu sein. Sie sind glatt rasiert. Um die Augen, um die Brust, um die Schwanzspitze.

Unverwandt sind unsere Sprachen. Die der Wölfe und jene, in der man mich gerufen hat. In dieser Sprache der Furcht, diese Sprache, der ein Klageton eingebrannt immer voraus ist. Noch bevor die Münder sich formen, klingt ein Ton wie Herzweh aus ihnen hervor. Die Wölfe, und auch die kleinen dagegen, sprechen ohne Zögern, ohne Angst, ohne Zweifel. Sie schreien und heulen alles Verlangen aus sich heraus. Sie scheren sich nicht um die Ohren, an die ihre Sprache dringt. Sie scheren sich nicht um anderes Wohl oder Unwohl. In Ansätzen bin ich mit dieser unverwandten Sprache aufgewachsen. Ich verstehe das Heulen der kleinen wie der großen Wölfe. Und deswegen bin ich auf der Jagd, bin ihnen auf den vierbeinigen Fersen, bin hinterher.

Meinem Onkel haben sie bei örtlicher Betäubung das Gesicht aufgeklappt, um die zersplitterten Knochen gegen Metallplatten auszutauschen. Gänzlich konnten sie ihn nicht betäuben, denn Sauerstoff war in sein Gehirn gelangt. Das Risiko, er würde nicht mehr aufwachen zu groß. Risikoscheue Ärzteschaft. Er hat von der Operation erzählt, weil er dabei war, bewusst anwesend. Unter dem Skalpell bei lebendigen Leib offenen Auges. Damit ist er für mich zum Helden geworden. Mein Onkel mit dem zertrümmerten Schädel, mit Metall statt Knochen im Gesicht, unter der Haut, wo sonst kaum einer hinschaut. Wie sie ihn aufgeschnitten, die Haut, die Knochensplitter beiseite und ihn wieder zusammengesetzt haben. Das stelle ich mir vor, abends, wenn ich die Augen schließe, morgens, wenn ich sie öffne. Den Puzzleschädel.

Wenn man einen von ihnen trifft, bleibt er der Meute zurück und man kommt ihm näher als bis auf die Fersen, man geriet plötzlich aus der Verfolgerdistanz in Beißnähe. Man erreicht jene Gefahr, welche den angeschossenen Wolf selbst schon längst erreicht hat. Lebensnot.

Ich liege mit dem Rücken zum Dach. Über mir Vögel und ich sehe sie wie Fliegen durch mein Sichtfeld gleiten, stelle mir vor, ich liege bäuchlings auf dem Eis und beobachte Fische durch milchiges Glas. Es ist kalt geworden. Außerhalb. Warm spüre ich den Blutfluss in mir, wie er treibt und fortschwemmt. Alles aus dem Herzen hinaus.

Den angeschossenen Wolf habe ich mir über die Schulter gespannt und später dann eingekerkert. Er liegt unter dem Dach und lässt nichts von sich hören. Er schläft oder stirbt. Kaum einer gibt beim Sterben einen Ton von sich. Weder Mensch noch Wolf. Alle schön still, als würde der Tod sie so nicht finden. Als fiele er nach dem Gehör über einen her. Dabei krepieren die Stillen. Nur die Lauten bleiben verschont. Zu denen, die brüllen, kommt keiner.

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