Donnerstag, 24. April 2008

Internationales Frauenfilmfestival. Eröffnungsfilm am 23.04.2008. Kein Eintritt für normal Sterbliche. Auch nicht Frauen. Die Hälfte der Plätze war für die Presse reserviert, die übrigen Sitze für Organisation und Filmcrew. Warteliste. Sagte mir eine ins Gesicht und lachte, als hätte sie mit ihrer Mundfeuerwaffe ins Schwarze getroffen. Da stand mein Name nun und wartete, ob ihm nach Filmbeginn doch noch Einlass gewährt werden würde.

Also ließ ich meinen Namen dort auf einer Liste zurück, ließ ihn warten und ging ins 7. Eine Bar, dem Kino, dem Trubel um Rang und Namen nicht fern. Einen Longdrink. Um die Wartezeit zu überdauern. Etwas, woran ich länger trinken wollte.

S. war ihrem Namen treu und in unmittelbarer Nähe geblieben. Sie hielt dem Warten stand. Ich war gespannt, ob sie noch kommen würde, oder ob ihr Name es wirklich von der Liste in die ersten Ränge geschafft hätte. Da kam sie auch schon!

Der Barmann würfelte mit denen, die an der Bar saßen. Sonst saßen nur wir. Die wenig Übrigen standen am Ausgang, als wären sie hier nur zum Durchatmen gewesen, nur ein kurzer Zwischenstopp zwischen den Fluchtschritten.

Hin und wieder ein Jubeln, die Würfel fielen gut. S. sah müde aus, Sie arbeitet seit Jahren tagein, tagaus. Und dann gewährt man ihrem Namen nur einen Platz auf der Warteliste, keinen Sitz im Kinosaal. Keinen Blick auf den Film, der zur Eröffnung lief. Sie las Zeitung, als hätte sich dort am Abend noch etwas finden lassen, was über den Tag nicht aus allen Richtungen auf sie eindröhnte. S. trinkt Bier direkt aus der Flasche. Kein Anhalten, kein Heimischwerden in der Bar 7. Wenn Vorgestern gewesen wäre …

Um uns herum alles laut. Als ließe das abnehmende Tageslicht das Leise nicht länger zu. Die Stimmen werden lauter in der Nacht. In absoluter Dunkelheit nur noch Gebrüll. Der Barmann würfelte schlecht. Er schaute übellaunig und zeigte kein Interesse an meinem viel zu schnell geleerten Longdrinkglas. Wie es wohl meinem Namen auf der Warteliste ergangen war. Ich konnte ihn nicht mehr hören. Schall und Rauch, um sprichwörtlich zu werden, stiegen in den Himmel hinauf. Ich ging über den Fluss auf die andere Seite der Stadt. Ließ meinen Namen dort, wo er war. Vielleicht ein andern Mal …

Dienstag, 22. April 2008

Ich atme. Und Atme. Lauter. Dann etwas leiser. Weniger ein, mehr dafür aus. Atme bewusst unbewusst. Und doch, ich atme die umliegende, schwebende, fliegende, schwimmende, die um mich herum existierende Luft, mit all dem unausweichlichen Innenleben. Nicht dem Herzen sondern diesen Atomen, Molekülen, Zellen. Dieser ganzen unsichtbaren Existenz.

Während S. noch mit der Stirn, die ich vor Jahren schon bis zum Haaransatz küsste, gegen das Fenster gelehnt der fliehenden Straße nachschaut, wird mein Atmen zum Fressen.

S. besteht aus diesem Fluchtkörper, deswegen kann sie den Blick nicht von den flüchtigen Dingen lassen. Einen Körper, dem ich anhänge, nachlaufe. Einmal sagte sie: „Ich bin dir kein Ausweg, hör doch auf!“. Ich lachte, aber nur so, dass S. es nicht sehen konnte. „Wenn du wüsstest.“, sagte ich. Und dabei blieb es bisher. Sie weiß von ihrer Körperart nichts. Ahnt es in Ansätzen nicht. Doch immer wenn ich sie greife, spüre ich diese besondere Art in den Fingern. Wie sie mir entgleitet. „Wir sind Aasfresser, wenn wir abgestandene Luft atmen.“, sage ich in ihren Rücken hinein, und erst da bemerke ich, dass genau jetzt, so, wie S. da ist, auch sie als abgestanden gilt. Und wenn ich ihr jetzt den Nacken nicht küssen, nur so leicht beißen würde?

Wenn ich früher geahnt hätte, dass ich einmal so alt werden würde, wie ich heute bin. Und dabei ist das nicht einmal ein Alter, auf das man stolz sein könnte. Durchschnittlich. Aber wenn ich gewusst hätte, dass diese Lebensjahre kein Alter bedeuten, ich hätte es nicht geglaubt. Zumindest hätte ich gehofft, dass etwas Wahres dran ist, denn die Leute in meinem jetzigen Alter kamen mir damals unendlich erwachsen vor. Ich bin weit weg vom Erwachsensein. Ebenso weit entfernt wie vom Frausein. Eine Frau hat ein Kind, zwei oder drei. Sie hat einen Geld einbringenden Beruf, keine Wünsche, nur erreichte Ziele, ein Konto, ein Haus, Hund und Katze. Sie fährt einmal, vielleicht sogar zweimal im Jahr ans Meer, in die Berge, und sie fährt ein fünftüriges Auto mit offenem Dach. Eine Frau hat einen Busen, der meinen bei Weitem übertrifft. Nein. Ich bin weder alt, noch Frau, noch erwachsen. Kindsäugig hatte ich mich in allen Punkten getäuscht.

S. zieht ihre hohe Stirn vom Fenster. Beinah glaube ich, ein Geräusch wie von einem Saugknopf zu hören. Sie dreht sich zu mir, wie sie schaut und guckt, als wollte sie etwas anderes sehen, als das, was sie sieht und sagt: „Wir sind so alt geworden, wann werden wir endlich erwachsen, hm?“. Ich hebe die Schultern, lasse sie sinken, atme bewusst unbewusst und meine: „Würdest du denn statt meiner eine Frau lieben?“

Samstag, 19. April 2008

Wie nah ist oder bleibt man dem Elternhaus, ist man doch längst in Ferne gerückt. Absichtlich oder wegen äußerer Umstände. Familie. Und was bedeutet dieses Wort, diese aufgezwungene Zusammengehörigkeit?

Ist ein Familienmensch überhaupt in der Lage, wird er jemals die Beschaffenheit der Einsamkeit kennen lernen, wenn doch der Ausbruch aus der Familie der Sturz dieser besonderen Einheit bedeutet. Genetische Verwandtschaft. Setzt sie voraus, dass die genetisch verwandten Herzen für einander schlagen oder empfinden?

Wohin schlägt schon so ein Herz, wenn nicht gegen die eigene Brust?!

Und bedeutet Ausbruch nicht etwas anderes als Flucht. Viel mehr ein Dagegen-Angehen. Ein Aufbrechen alter Strukturen und Mauern.

Du sprichst von Frauen. – Warum denn nicht, du redest doch auch die ganze Zeit. – Weißt du eigentlich, dass China Waffen an Simbabwe liefert? – Nein, interessiert mich auch nicht. Wie kannst du Waffen und Frauen über eine Zunge scheren. Mann, Alter! – Erzähl doch nichts. Sind doch harte Geschosse, diese Weiber. Überall nur auf Lauer. Schlimmer als Heckenschützen. Immer musste auf der Hut sein, nicht eine verpasst zu bekommen. – Du spinnst ja. – Ach. Jetzt auf einmal, ja?! Und was war mit S.. Wie haste da geheult, als die dich auf offener Straße abgeschossen hat.

Mittwoch, 16. April 2008

Warum zieht es mich hinaus und immer in Weite, auf Feld und Flur, an die Ufer der nahbaren Seen und Flüsse, die sich nirgends Veränderung anmerken lassen? Flatterhaft folge ich diesem Zug. Vielleicht weil ich als Mensch im Körperlichen begrenzt die Weite nicht empfinden kann, weil ich nur im Anblick dieser, mir meiner Rahmen und Grenzen bewusst werde. Dieser klaffenden Wunde.

Film: Saturno Contro Regie: Ferzan Ozpetek

Buch: Frühes Versprechen Autor: Romain Gary

Was beschäftigt mich außerdem?

Dass ich bald möglichst wieder ins LizBät muss. Die beste Crepérie der Stadt.

Dass die Erddrehung unabhängig von den Schritten der Menschheit erfolgt und sie demnach ein Laufrad nicht sein kann. Oder ein großer Ball unter balancierenden Füßen.

Montag, 14. April 2008

Das russische Shuttle hatte ich verpasst.

Aber vielleicht werde ich später noch in die Zukunft sehen und aus ihr heraus meinen jetzigen Zustand überdenken. Die Menschen sprachen, und ich wusste gar nichts davon, dachte, alle wären ein klein wenig mehr verrückt geworden. So war das. Die Straßen leer, als ich von der Arbeit kam. Am Rheinufer standen die Massen, und vielleicht hätten sie sich auch in das Wasser gestoßen, wären die Anstrengungen nicht zu enorm gewesen.

Das Shuttle war hier, wo ich sonst auch bin.

Donnerstag, 10. April 2008

Vorhin, als ich von der Arbeit auf dem Weg zur Wohnung war, kam mir ein Gedanke. Ich hielt im Aufstieg aus der U-Bahn ans Tageslicht und kramte in der Tasche. Ich fand nur den Umschlag meiner Lohnabrechnung. Was also heißt, ich habe dieser Tage Geld bekommen. Sogar mehr als die Monate zuvor. Den Umschlag der Lohnabrechnung legte ich auf das Treppengestänge und schrieb:

Ich glaube die Hälfte unserer Möglichkeiten sind Fluchtmöglichkeiten. Gehe ich nach links oder nach rechts, wo ist ein Hindernis oder was ist der schnellste Weg um ans Ziel zu gelangen?

Dann kramte ich alles zurück in meine überpackte Tasche und stieg die Anhöhe hinauf, weil sie erträglicher ist als die Stufen. Beim weiteren Gehen fiel mir abermals der Begriff: FLUCHT in Gedanken. Wie oft ich davon Gebrauch mache. Man kann es hier nachzählen. Ich muss das nicht, denn ich werde mir mehr und mehr dieser Tatsache bewusst. Lange schon überdenke ich, ob vielleicht FLUCHT mein Thema ist, und ob nicht jeder Mensch sein Leben lang an einem Thema entlang gleitet.

FLUCHTUCH

Und ist das ganze Leben nicht an sich eine Flucht vor dem Sterben, und es kommt nur darauf an, wie lange man sich bei Kräften hält?

Der Fortbestand der Dinge. Kein Leben, kein Sterben. Kein Fliehen.

Immer mehr Menschen neigen im Angesicht des Sterbens dazu, ihre Gedanken, ihr Erleben nieder zu schreiben, weil es die letzten sein könnten. Oder weil sie es sogar sind. Einen Begriff hat diese Art der Flucht schon geprägt: last lectures. Und mit diesem Letzten Vortrag versucht der Mensch die letzt mögliche Flucht. Nämlich: Sich über seinen Tod hinaus am Leben zu halten. Vielleicht – im Angesicht des Sterbens – erlangt er Einsichten. Das Erkennen der Unnützlichkeit des Fliehens. Denn es gibt kein Entkommen. Nirgends.

Mittwoch, 9. April 2008

Ich stehle mich durch die Landschaft der immer gleichen Tage. Hinaus in den Freiheitsraum, wie man ihn manchmal während einer Zugfahrt unberührbar hinter dem Fensterglas vorüber ziehen sieht. Dort hinein.

Der Tag war vor der Tür schon in die Nacht gebrochen. Nur hier war noch Dunkel, ein Flecken Nacht, mit dem ich mich bedeckt und die Augen geschlossen hielt. In so landschaftsloser Zeit zwinge ich mich in den Schlaf, während S. zum Aufstehen gezwungen ist. Denn ihre Zeit hat Strukturen, Konturen. Sie ist Kontrast ihres Selbst. Täglich von sechs bis zwanzig Uhr, außer an den Wochenenden. S. lebt in einem unveränderbaren Bild, und ich auf einer Zauberfolie. Ich kann die Zeit rändern, ihr Formen, von mir aus auch Gesichter zeichnen. Dann, in einem unerwarteten Augenblick, streiche ich über die Folie und jeder Rahmen, jeder Strich, jede Verzierung ist nicht länger vorhanden. Andere müssen dafür Zäune und Wände einreißen. Die mögen mich einerseits beneiden. Andererseits können sie sich anlehnen an ein Gehäuse, das mental Obdach bietet.

Ein landschaftsloser, ein freier Tag. Zeit zur zwanglosen Verfügung. Unstrukturierte Zeit. Das ist es, worunter ich leide. S. ist mitunter versucht, sich von den Knebeln zu befreien, obschon sie sich in Schranken wünscht. Es wäre kein Fluchtversuch, wenn sie der jetzigen Landschaft entkäme, sondern nur eine Reise in neue Gefilde, wie sie betont. Also nicht in Schwebe geraten, frage ich, und sie sagt, nein, da würde ihr übel werden.

Mit heißem Tee versuche ich mir die Stimme wieder zum Leben zu erwecken. Manchmal legt sie sich abends, wenn ich mich zur Ruhe lege, zum Sterben hin. Ein fader Geschmack zieht dann aus dem Hals herauf, und ich fürchte den Mund zu öffnen. Deswegen halte ich ihn verschlossen. Grabähnlich. Nach der Ruhe beginne ich allmorgendlich mit der Reanimation meiner Sinne. Andere mögen eine Runde um den Block drehen, sich auf ein Laufband stellen oder sonst welcher Körperbewegung nachkommen, ich atme Wasserdampf, verbrenne mir die Finger an der Teetasse und stürze Kamillendampfbäder den Rachen hinunter. Die Ohren erliegen der Beschallung durch Radiosprecher und die Augen sind beim Genuss der morgendlichen Wiederbelebung schon seit Stunden dem Licht ausgesetzt. Immer ist es ein Mich-Wieder-Finden nach den Verwirrungen der Nacht.

Der Tag genügt mir, um an andere Tage zurück zu denken:

-

Der Mensch ist, als Gattung, nicht als Einzelwesen betrachtet, unaufhörlich. Von Natur aus ist er so eingerichtet, aus sich selbst heraus zu richten, zu walten. Ich sitze G. gegenüber und betrachte ihn im Wechsel als Einzelwesen, dann als Gattung. Komisch, das Gefühl mit ihm gattungsgleich zu sein, weil er für sich betrachtet, außerordentlich ist.

Er kratzt sich die Wange, deren Haut unter dem Bart verborgen liegt, und ich höre nur auf dieses leise Schaben, das verrät, wie tief er mit den Nägeln in die Haut hineingreift. Und wie viel von ihr unter seinen Fingernägeln zurückbleibt. Er ist anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte, als ich ihm noch nicht gegenüber saß. Ich hatte an rauchige Hände gedacht, an hinter die Ohren geklemmtes Haar, an alles andere als an das, was er mir gegenüber jetzt ist.

Erinnerst du dich an die Zeit im Meer?, fragt er, nachdem er mit dem Kratzen aufgehört hat. >Im Meer< ist ein Buch, an dem wir schrieben. Es ist klein, blau und von der Seite zu öffnen. Ich erinnere mich, sage aber nichts, weil ich meine, er müsse es doch wissen, wie ich hier sitze, mit dem wässrigen Kaffee in der Tasse. Jahre später schon.

Ich denke, fährt er fort und aus meinem Gedankenraum, wir sollten eine neue Auflage in Angriff nehmen. Was hältst du von der Idee, und was von deinen Texten heute, fragt er weiter. In Angriff nehmen, klingt gewalttätig. Mit Gewalt tätig, möchte ich nicht sein. Ich habe mich zu oft schon von Schlagworten niederprügeln lassen. Aber er hört nicht auf, er spricht und denkt zugleich, und ich wundere mich, wie er es schafft, wie es ihm gelingt, in Balance zu bleiben. Weißt du, das Meer könnten wir ausweiten. Überufern, meint er, während ich an Hochwasserschutz denke.

Aus dem Kaffee sehe ich das Wasser, wie es mir entgegen sprudelt, als schriee es um Hilfe, weil es fürchtet, im Kaffee umzukommen. Oder unterzugehen. So breit ist die Masse also, denke ich.

Alles Fische! Könnte doch jeder über die Zeit im Meer nachdenken, über sie schreiben.

Weißt du, versuche ich mich, ich würde aus dem Meer lieber hinaus und in die Sprache finden. Einfach einen Evolutionsschritt weiter gehen. Er guckt und lächelt. Ich sehe das Wasser aus der Tasse auf ihn schwappen, als glaubte es sich bei ihm an einem sicheren Ort.

Gut, sagt er, gehen wir landwärts.

-

Und jetzt bricht schon wieder die Nacht herüber.

Sonntag, 6. April 2008

Bin bei dem ganzen Getue um den Klimawandel stündlich mit der Aufklärung darüber beschäftigt, dass früher schon immer zu Ostern oder im April noch Schnee fiel, dass wir eingepackt in Winterjacken über die gefrorenen Wiesen staksten und nur darauf warteten, das erste Gänsegeschrei, wie es von Himmel mit dem Frühjahrsschnee herabfallen würde, zu hören. Aber was heißt schon Früher, wenn ich damit die Zeit meiner Kindheit meine, meint ein anderer die Zeit viele Jahre davor. Und dann wird es welche geben, die sich meine Kindheitszeit nicht einmal vorstellen können. Was also heißt schon Klimawandel? Eiszeit, Trockenperiode, Weltuntergang?

In der 10. Auflage des Meyers Taschenlexikon ist der Begriff >KLIMAWANDEL< nicht zu finden, stattdessen liest man:

>K.-Schwankungen sind kurzzeitig periodische Veränderungen der klimatischen Gegebenheiten durch Abweichungen (Anomalien) von einem mittleren Wert, der sich über einen sehr langen Zeitraum hin ergibt. Sie stehen im Gegensatz zu nachhaltigen Veränderungen des Klimas, die nur in einer Richtung verlaufen, den K.-Änderungen, sind aber von diesen nicht immer deutlich zu unterscheiden. Auffällige Erscheinungen sind Temperaturerhöhungen (K.-Optimum) und –rückgang (K.-Pessimum). Extreme sind die Eiszeiten, in denen die Tieflandvereisung äquatorwärts bis 50° Breite vordrang, sowie Wärmezeiten mit weitgehend eisfreiem Polarmeer.<

Mittwoch, 2. April 2008

Ich reiße die Dämme, sagst du und meinst, ich flute über dich hinaus. Gestern noch trieben Menschen im Fluss, heute schon treiben Kadaver. Ich rieche und spüre meine Nase Schnabel, Verhornung, Schneidezahn, Aasfresser werden. Und greife ein, hinein in das treibende Aas. Vielleicht auch, weil es sich besser als Lebendes abgreifen lässt.

Die Stadt macht Landmenschen heimatlos. Sie werden die Heimat auf irgendeine Art und Weise los. Stadtweise. Eine Art der Asphaltierung ist es, die den Pfad von der Straße unterscheidet.

Ich trinke Wein. Das ist das bessere Wasser. Ich atme Luft statt puren Sauerstoff. Ich scheide aus, was ich nicht in mir halte. Ich bin porös, durch- und nachlässig. Kein Damm.

Meine Kindheit ist auf der anderen Seite der Absperrung. Bitte Abstand halten. Mit Bitte um Diskretion hinter der Linie warten. Worauf? Dass die Kindheit einen Sprung macht? Oder ich? Und was wenn, haben dann Männer in Uniform ihren Auftritt und ich meinen Abgang?

Wenn ich mich so wie der Wein auf Zungen legen könnte. Ich läge ausnahmslos in beinah jedem Mund.

Michel de Montaigne schreibt es so schön:

>Dies hier sind so meine eigenen Einfälle, wodurch ich nicht beabsichtige, das Wesen der Dinge ans Licht zu bringen, sondern mich selbst.<

Am Fluss liegen tote Ratten. Was, wenn ich diese Nacht am Fluss verbracht hätte, läge ich ebenso leblos unter ihnen?

In der Zeitung steht heute: >Vater muss ungeliebtes Kind nicht sehen.

Kinder werden nicht gefragt, sie sind und bleiben ungeliebten Eltern ausgesetzt. Allerorts. Und mancherorts heimlich. Unkenntlich. Da weiß nicht einmal der Nachbar, dass im Haus nebenan Kinder leben. Vielleicht leben die auch schon längst nicht mehr. Oder haben es nie.

Ist halt so.

>„Pech gehabt“, sagte Schwerins Oberbürgermeister Claussen über die tote Lea-Sophie.

Das steht auch in der Zeitung.

Unter der Rubrik ausland lesen wir:

>Eine Dengue-Epidemie im brasilianischen Bundesstaat Rio de Janeiro hat 2008 schon 67 >Menschen das Leben gekostet

>53 Somalis vor Jemen ertrunken

>Zwölf Tote bei Gefecht zwischen türkischen Soldaten und Kämpfern der kurdischen PKK

>Zahl der Opfer im Irak steigt

>Waffen für Kongo ab jetzt legal

Man muss fürchten, die Rubrik ausland wird demnächst nicht mehr erscheinen. Das Ausland scheint vom Aussterben bedroht. Stattdessen wird Platz für interkontinentale Todesanzeigen oder für die Schmelzgrade der arktischen Gletscher oder die Geburtenrate zooinhaftierter Eisbären.

Dienstag, 1. April 2008

Sprache. Als Aufenthaltsraum.

Bin mit den Nerven weit über die regulären Bahnen hinaus geraten, und nun verknüpfen sich die Synapsen kopfauswärts mit meinen Haaren. Immerfort geraten sie mir ins Blickfeld und ich streiche die überfälligen und blank liegenden Nerven hinter die Ohren, drücke sie fest, bändige und zwänge sie ein. Die Dressur kostet mich Tage.

L. meint, sie verstehe die Welt nicht mehr, als hätte sie jemals in Ansätzen nur etwas von dem verstanden, was sie Welt nennt. Ich drehe und spucke im Kreis, ziehe Linien, stecke Grenzen und Markierungen. Bis dahin, nicht weiter, denke ich und spucke L. vor die sandalten Füße.

Ob die Welt aufhört zu drehen, wenn ich damit anfange? Manchmal wechselt doch das Eine das Andere ab, und wenn man einen Drehkörper gewaltsam in den Stillstand zwingt, beginnt man selbst zu drehen. Kraftübertragung. Energie geht nicht verloren. Ein Grundsatz der Physik, den ich im Wirrwarr meiner Synapsen behalten habe.

Mit L. arbeite ich seit drei Jahren zusammen, und jede gemeinsame Stunde geraten wir weiter auseinander. Ich teste Distanz an Stellen, wo sie noch Nähe versucht und bin geladen, fürchte eine Überspannung der Nah-Fern-Konflikte, einen bevorstehenden Kurzschluss. Die Reaktion. Und frage mich, ob man für Überladungsfolgen belangt werden kann. Wenn ein Mensch außer sich gerät, gilt das quasi als Kehrtwende.

Ich zäune mein Haar und dadurch dringt es in Höhe. Meine Nerven leiden unter Hoch-Tief-Ängsten, aber der Zaun ist ein Drahtseil, an dem Alles hängt.