Ich stehle mich durch die Landschaft der immer gleichen Tage. Hinaus in den Freiheitsraum, wie man ihn manchmal während einer Zugfahrt unberührbar hinter dem Fensterglas vorüber ziehen sieht. Dort hinein.
Der Tag war vor der Tür schon in die Nacht gebrochen. Nur hier war noch Dunkel, ein Flecken Nacht, mit dem ich mich bedeckt und die Augen geschlossen hielt. In so landschaftsloser Zeit zwinge ich mich in den Schlaf, während S. zum Aufstehen gezwungen ist. Denn ihre Zeit hat Strukturen, Konturen. Sie ist Kontrast ihres Selbst. Täglich von sechs bis zwanzig Uhr, außer an den Wochenenden. S. lebt in einem unveränderbaren Bild, und ich auf einer Zauberfolie. Ich kann die Zeit rändern, ihr Formen, von mir aus auch Gesichter zeichnen. Dann, in einem unerwarteten Augenblick, streiche ich über die Folie und jeder Rahmen, jeder Strich, jede Verzierung ist nicht länger vorhanden. Andere müssen dafür Zäune und Wände einreißen. Die mögen mich einerseits beneiden. Andererseits können sie sich anlehnen an ein Gehäuse, das mental Obdach bietet.
Ein landschaftsloser, ein freier Tag. Zeit zur zwanglosen Verfügung. Unstrukturierte Zeit. Das ist es, worunter ich leide. S. ist mitunter versucht, sich von den Knebeln zu befreien, obschon sie sich in Schranken wünscht. Es wäre kein Fluchtversuch, wenn sie der jetzigen Landschaft entkäme, sondern nur eine Reise in neue Gefilde, wie sie betont. Also nicht in Schwebe geraten, frage ich, und sie sagt, nein, da würde ihr übel werden.
Mit heißem Tee versuche ich mir die Stimme wieder zum Leben zu erwecken. Manchmal legt sie sich abends, wenn ich mich zur Ruhe lege, zum Sterben hin. Ein fader Geschmack zieht dann aus dem Hals herauf, und ich fürchte den Mund zu öffnen. Deswegen halte ich ihn verschlossen. Grabähnlich. Nach der Ruhe beginne ich allmorgendlich mit der Reanimation meiner Sinne. Andere mögen eine Runde um den Block drehen, sich auf ein Laufband stellen oder sonst welcher Körperbewegung nachkommen, ich atme Wasserdampf, verbrenne mir die Finger an der Teetasse und stürze Kamillendampfbäder den Rachen hinunter. Die Ohren erliegen der Beschallung durch Radiosprecher und die Augen sind beim Genuss der morgendlichen Wiederbelebung schon seit Stunden dem Licht ausgesetzt. Immer ist es ein Mich-Wieder-Finden nach den Verwirrungen der Nacht.
Der Tag genügt mir, um an andere Tage zurück zu denken:
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Der Mensch ist, als Gattung, nicht als Einzelwesen betrachtet, unaufhörlich. Von Natur aus ist er so eingerichtet, aus sich selbst heraus zu richten, zu walten. Ich sitze G. gegenüber und betrachte ihn im Wechsel als Einzelwesen, dann als Gattung. Komisch, das Gefühl mit ihm gattungsgleich zu sein, weil er für sich betrachtet, außerordentlich ist.
Er kratzt sich die Wange, deren Haut unter dem Bart verborgen liegt, und ich höre nur auf dieses leise Schaben, das verrät, wie tief er mit den Nägeln in die Haut hineingreift. Und wie viel von ihr unter seinen Fingernägeln zurückbleibt. Er ist anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte, als ich ihm noch nicht gegenüber saß. Ich hatte an rauchige Hände gedacht, an hinter die Ohren geklemmtes Haar, an alles andere als an das, was er mir gegenüber jetzt ist.
Erinnerst du dich an die Zeit im Meer?, fragt er, nachdem er mit dem Kratzen aufgehört hat. >Im Meer< ist ein Buch, an dem wir schrieben. Es ist klein, blau und von der Seite zu öffnen. Ich erinnere mich, sage aber nichts, weil ich meine, er müsse es doch wissen, wie ich hier sitze, mit dem wässrigen Kaffee in der Tasse. Jahre später schon.
Ich denke, fährt er fort und aus meinem Gedankenraum, wir sollten eine neue Auflage in Angriff nehmen. Was hältst du von der Idee, und was von deinen Texten heute, fragt er weiter. In Angriff nehmen, klingt gewalttätig. Mit Gewalt tätig, möchte ich nicht sein. Ich habe mich zu oft schon von Schlagworten niederprügeln lassen. Aber er hört nicht auf, er spricht und denkt zugleich, und ich wundere mich, wie er es schafft, wie es ihm gelingt, in Balance zu bleiben. Weißt du, das Meer könnten wir ausweiten. Überufern, meint er, während ich an Hochwasserschutz denke.
Aus dem Kaffee sehe ich das Wasser, wie es mir entgegen sprudelt, als schriee es um Hilfe, weil es fürchtet, im Kaffee umzukommen. Oder unterzugehen. So breit ist die Masse also, denke ich.
Alles Fische! Könnte doch jeder über die Zeit im Meer nachdenken, über sie schreiben.
Weißt du, versuche ich mich, ich würde aus dem Meer lieber hinaus und in die Sprache finden. Einfach einen Evolutionsschritt weiter gehen. Er guckt und lächelt. Ich sehe das Wasser aus der Tasse auf ihn schwappen, als glaubte es sich bei ihm an einem sicheren Ort.
Gut, sagt er, gehen wir landwärts.
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Und jetzt bricht schon wieder die Nacht herüber.