Donnerstag, 12. Dezember 2013

Der aus Afghanistan hat Blut an den Händen. Ich sehe ihn durch den Türspalt, sehe ihn diesen Türspalt breit. Seinen Bärenrücken diesen einen Spalt breit nur. Und das Blut an seinen Händen. Ich denke daran, wie er aus dem Wüstensand Dreck gemacht hat und mit dem Gewehr in der Achsel umhergetrieben ist. Ich denke und male mir Bilder, Bilder, aus denen ich mir auch den, der in Afghanistan war, herausschneide. Schneide ihn an den sanftesten Stellen eckig und kantig. Das Blut an seinen Händen ist Kinderblut. Ich sehe, wie er sein Kind auf den Arm nimmt, wie das Kind aus der Nase blutet. Zartes Kind, denke ich. Ein so zartes Kind aus einem solchen Bärenrücken. Der aus Afghanistan streichelt sein Kind, legt ihm die große Pranke auf den Kopf. Streichelt den Kindskopf auf seiner Schulter. Weshalb der sanfte Bärenrücken in die Wüste geschickt worden war, sagt er nicht. Er sagt nichts, was ihn in eine Ecke treiben könnte. Und so steht er diesen Türspalt breit nur, steht und tröstet sein Kind und weiß gar nicht, dass ich diesen Spalt seines Lebens beobachte.

Ich beobachte. Ich sitze auf dem Hochsitz und schaue, als schaute ich in Begreifbares. Vielleicht wage ich es nicht, das Leben in die Hand zu nehmen. Das Eigene oder auch das Andere, das Allgemeine oder das Besondere. Wissenschaftsfloskeln. Im Allgemeinen scheint das Leben ja ein Grundzustand zu sein, ein Weltgrundzustand, während im Besonderen, jedes im und am Leben seiende Geschöpf, das Leben an sich in seiner ihm eigenen Besonderheit gestaltet und erlebt. Das ist das Sonderbare. Der Akt der Gestaltung geht vom ebenso erfahrenden Subjekt aus. Das Leben ist kein zu ertragender, sondern viel mehr ein zu gestaltender Zustand. Wenn man denn möchte. Das Leben oder die Lebensgestaltung ist abhängig vom Leben tragenden Wesen. Und von den ihm möglichen Umständen.

Ach ja. Ich sitze also und gucke. Schaue, wie der aus Afghanistan sein und nun auch das Leben seines Kindes gestaltet. Mit den Händen, die auch ein Maschinengewehr halten, es putzen und laden und entladen können, mit diesen Händen hält er den Kopf des Kindes. Wischt ihm die Nase und dann auch seine Kindkopfhalthände sauber. Wie er das macht, sieht er beinah so aus, als wüsste er nichts von der Welt. Wüsste nichts vom Wüstensand und den darin schlafenden Minen, wüsste nichts von Auf- und Abrüstung, wüsste nicht, dass ich ihm im Rücken sitze und schaue.

Ich, die immer nur schaut, während ihr die Haare ausgehen. Eines nach dem Anderen. Ich habe ein Sammelbecken. Eine Haarsammelstelle. Jedes Haar, das mir entfällt nehme ich sorgsam zwischen Daumen und Mittelfinger, nehme es in diese Fingerhaltestelle und lege es behutsam in die Sammelschale. Ein Haar nach dem Anderen. Mit den Haaren gehen mir die Hoffnungen aus. Hoffnungen auf Großes und Kleines. Auf Grob- und Sanfthölzer. Mir reißen Kerben dort, wo mir die Haare ausgegangen sind. Ich wiederhole das Bild von der Kahlrodung in allen Gefilden. Ich begreife vielleicht mein Leben nicht, und deswegen schaue ich, das anderer zu begreifen. Mit den Haarfingerspitzen, Fingerhaarspitzen, Spitzfingerhaaren.

Und die Kinder, die als kleine Menschen aus einem herausreißen. Diese Kinder, die man einfach nur lieben und küssen möchte, ich begreife sie nicht. Sie nehmen mich bei der Hand, sie lächeln mir zu, sie sind kleine Menschen, die noch so viel werden gestalten können, diese kleinen Menschen sehe ich, sehe sie und möchte sie bewegen, und ich sehe, ich werde sie nicht bewegen können, ebenso wenig bewegen können, wie die Zehen meiner tauben und längst schon abgestorbenen Beine. An denen bewege ich nichts mehr.

Aber vielleicht, wenn ich durch diesen Türspalt nur ein wenig, so ganz sacht hinan greife, dann …

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