Dienstag, 17. Februar 2009



„Am Rande des Abgrunds ist die Aussicht schöner“
Yvonne Kuschel, Leipzig





Schneefeld im Osten ein Rand ohne Aussicht


Sie ist ihm Abgrund. Über ihre Vorhöfe und Brustwarzen
hinweg und hinein in die Herzkammern
und hinaus auf die Blutkreisbahnen,
die das Herz wie eine Achterbahn umschlingen.

Sie ist ihm Abgrund.

Was aber ist der Abgrund?
Oder wo?
Und wie weit ist es
bis zum Rand, bis hin zum Äußersten?

Beginnt der Abgrund, wo die Sprache endet, weil man meint, sich mit Worten im Oberwasser halten zu können? Immer diesen einen Kopf, der ausreicht oberhalb der Wasserlinie zur Luft zu kommen. Und weil dem Schweigen Gold in den Mund gelegt wird, sinkt es, driftet tief hinab, wo es schwer den Boden eines möglichen Abgrunds berührt? Möglich, weil man nicht weiß, ob das Berührbare noch oder schon abgründig genug ist, um als Gefahr gelten zu können. Ein Abgrund. In einem selbst bildet er die Unmöglichkeit des Endlosen, zumal er ein Ende, eine Schluss-, eine Torauslinie ist.

Wenn das Herz die Sicht auf die Dinge hätte.

Er atmet als sei das so nebenbei, nicht lebensnotwendig. Seine Augen sind Schießscharten und zwischen den Wimpern erkennt sie den Lauf des Gewehrs, das er wie eine Geige im Anschlag hält.
Schöne Aussicht, sagt er
und schaut durch das Spiegelglas sie an.
Wie sie nackt und kraus neben ihm steht.
Sagt schöne Aussicht und meint
Abgrund.

Legte er ihr Gold in den Mund, sie wäre sein Schweigen, und sie wüsste um ihren, sie in die Tiefe schleifenden Wert. Stattdessen aber klappt er den Spiegelschrank zu, streicht mit dem Finger ihr krauses Haar, eher nachlässig als zart, eher als würde er diese Landschaft roden,
zu einem Kahlschlag machen wollen.

Inwieweit kommt ihr Anvertrauen einer Selbsthäutung gleich, nach welchen Maßstäben hat sie ihn erwählt, dass sie sich ihm hingibt, sich vor seinen Augen und seinem Herzen gänzlich bis auf das truglose Fleisch enthäutet? Es ist eine Notwendigkeit, eine Lust zur Entfaltung, eines Aufblätterns all dessen, was sie verborgen haltend gepflegt und gedeihen lassen hat. Über die Jahre hinweg, denn liebensfähig bedeutet auch lebensfähig sein.

Sagt schöne Aussicht und
meint Abgrund.

Sie ist ihm Abgrund.
Über ihre Vorhöfe und Brustwarzen hinweg,
hinein in die Herzkammern und hinaus auf die Blutkreisbahnen,
die das Herz wie eine Achterbahn umschlingen
und ihn in Höhen reißen, in Tiefen stürzen.

Da kommst du nicht hinaus, denkt sie, auch wenn du alles Lebendige abholzt nicht.

So wie er eingedrungen ist, kommt er nicht hinaus.

Du bist Krieg, flüstert sie, weil sie weiß, er kann sie nicht hören und stellt sich gleichzeitig die Landschaften in ihm vor.
Die dreckige, in Schlangenlinien asphaltierte Wüste,
das Minenschlachtfeld,
den Dschungel. Und herzwärts:
das Schneefeld im Osten.

Er zerstört, während er sie anschaut und die Aussicht genießt.

Zieht über sie her, über sie hinweg, zieht sie an und zieht sie aus, zieht an all ihren Fäden, wie an Angelschnüren. Die er schon oft über den Bogen der Geduld bis zur äußersten Spannung getrieben hat. Kann in der Unruhe ihrer Seele Stürme entfachen, jetzt kann er hereinbrechen und einreißen, was keinen Anker in ihr warf. Die Hoffnung, die Liebe, das Leben selbst. Wie junge Fische kann er sie an sich ziehen, ihnen die Haken samt Kiemen herausreißen und sie blutleer zurück werfen, weil sie seinen Erwartungen nicht gerecht werden, klein und kümmerlich sind.

Während er sie anschaut und die Aussicht genießt.

Aussicht. Ist sie am Rande schöner, weil man dem Abgrund entkommen kann? Am Rande des Abgrunds, das heißt, mit den Händen schon in der Zukunft klammern, während die Füße noch im Morast der Gegenwart stecken. Aus dem Abgrund emporsteigend, erklimmt man die Spitze der Möglichkeiten. Was ist Aussicht denn anderes als eine neue Chance, eine wiederholte Gelegenheit die Betrachtung zu ändern? Und wenn man bisher aus der Mitte des Abgrundes geschielt hat, geriet man nun eben an den Rand, an die äußerste Grenze, an die Unfassbarkeit mit den Augen zu sehen und daran zu glauben, was man mit ihnen sieht. Den Rand, die Möglichkeit alles Weiteren.

Ach, wenn das Herz diese Weitsicht hätte.

Sie lebt mit ihm wie auch Hunderttausende sonst. Krieg ist allerorts, ob im Großen oder ganz Kleinen. Dass er sie jedes Mal zerfetzt, sobald sie ihn berührt, ist das Ausmaß seiner Minenlandschaft. Drumherum kommt sie nicht, der erste Schritt ist immer schon Ein-Tritt ins Schwarze.


Wie nah sie beieinander sind. Krieg. Abgrund.
Liegen Hand in Hand und mit den Köpfen gegen die Wand, weil Betten immer wie Todgesagte an der Wand stehen. An einer Wand, an deren Kehrseite ein anderes Bett gerückt ist, andere Köpfe und Hände Hand in Hand liegen. Die Kriege und Abgründe der Anderen sind nebenan, sind immer eine wandbreit entfernt.

Sie hört ihn. Hört ihn durch die Wand hindurch das Bett, den Todgeweihten verschieben, als hätte er gelauscht, was in ihrem Kopf, hinter dieser Wand aus Gesicht und Haar vor sich geht.

Sie zieht mit den Fingern Landschaften in ihr nacktes Dasein. Überall dort, wo die Nägel einsinken, entstehen Gräben. Im Winter läuft er Gefahr! auf ihrer Haut auszurutschen oder schlimmer noch, einzubrechen. Im Winter hält sie ihn fern.

Randwärts.


Der Rand, diese Umrahmung der Dinge, alles Unfassbaren, die innen- und außenwendig abkapselt, einkerkert, ausschließt.
Formt. So wird der Rand Rahmen, Umzäunung aller Möglichkeiten, wird wegweisend und Berührungspunkt. Der Rand selbst ist der Abgrund. Weil er in dessen Form gezwängt nirgends Platz und Raum findet. Über ihre Einrahmungen hinaus kommen die Dinge nicht.

Wenn das Herz nicht umrandet wäre.

Über ihre Einrahmungen hinaus kommen die Dinge nicht!

Wenn das Herz nicht umrandet …

Der Krieg nimmt, was er möchte. Land, Leib, Leben. Er nimmt es zwischen die Hände, als wolle er zärtlich sein,
dann zerbröselt er es gewaltsam leise mit den Fingern, zerbröselt es und schaut zu, wie es zu Boden rinnt, wo er es das letzte Mal mit den Füßen noch erwischt, fest und erdig zu treten. Krieg muss nicht laut ausbrechen, um von sich Reden zu machen

Über ihre Einrahmungen hinaus kommen die Dinge …,

denkt sie und schaut in einen zugeklappten Spiegelschrank, der das Bild von ihr, ihr nacktes und krauses, kaleidoskopisch zerbricht. Selbst die Dinge sind seine, auf ihren Streukörper gerichteten Sprengwaffen. Mein Krieg, sagt sie vor Verstreuung im Raum nicht sicher, mein Krieg, wenn doch deine Liebe so gewaltsam leise wäre!
Sie könnte sie überhören und kaum bemerkend andernorts wüten lassen.

Aber selbst die Dinge sind seine, auf ihren Streukörper gerichteten Sprengwaffen.

Sie steht und hört seinen Schritten hinterher, als könnten sie allein schon gefährlich werden. Wenn sie das Herz nicht mit dem Leibe so ummantelt hielte, es spielte sich auf, sich hinweg und hinüber. Gerade so, als dehnte es sich aus dem Brustkorb heraus und überfiele so alles Übrige. Mit Äuglein schaute sie wie aus einem zu groß geratenen, hoch geschlossenen Pelz aus diesem Herzen hervor und wüsste gar nicht wohin. So viel getriebenes Herz um sie.

Aber: Über ihre Einrahmungen hinaus kommen die Dinge nicht!

Seine Schulter kugelt in ihrem Gelenk und sie stellt sich vor, wie es wohl wäre, geriete seine Schulter in diesem Augenblick aus der Einrahmung. Mit welchem Geschrei er plötzlich vor ihr stände. Aber er schaut und zeigt auf ein Bild und meint, es würde niemals aus sich heraus geraten, nicht die Farbe, nicht die Figuren, nicht die Absicht des Malers. Über ihre Einrahmungen hinaus, denkt sie, kommen die Gefühle nicht, nicht das Herz, nicht der Verstand. Und wenn sein Herz heraus geriete? Er schaute sie durch den Spiegel an wie ein Bild, und sie wartete schon darauf, dass er sagt, sie käme nicht hinaus, aus ihr heraus käme nichts, was dort jemand gewollt haben könnte. Und er spricht und zeigt mit dem Finger und meint, niemand und nichts kämen aus sich heraus und während er scheinbar aus irgendeiner durchlässigen Umrahmung tritt, stellt sie sich sein kriegerisches Herz vor. Wie es schlägt und hämmert und über sich hinaus nicht kann. Wie es aus ihm nicht heraus kann, nicht zu ihr, nicht zu irgendeinem.

Er reibt sich an ihr auf, während er von den Dingen spricht, die die Welt ausmachen, den Dingen, die so unfassbar zu greifen sind, weil sie in den Untiefen jedes einzelnen Menschen ankern. Verkennbar, sagt er, sind die Dinge und sie beobachtet die Öffnung und durch sie hindurch, über sie hinaus die Aussicht, die an ihr zur Wunde wird.

So viel getriebenes Herz.

Es wird Zeit, sagt er durch die verschlossene Tür. Sie zieht mit Fingern die letzte Landschaft, das tauende Schneefeld brach. Es ist Zeit, denkt sie. Zeit für Krieg. Zeit für Abgrund. Zeit von den grünen, seichten zu den Tiefenwassern zu wechseln.

Abgrund. Zumal er ein Ende, eine Schluss-, eine Torauslinie ist. Der Abgrund ist das Äußerste.

Ist Rand ohne Aussicht

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