Frühlingsgefühle
Manchmal
dröhnt mir der Kopf. Manchmal von der feuchtwarmen Luft, manchmal vom Geschrei
der Kinder, manchmal von meinen Lügen. Der Blütenstaub liegt regennass am
Boden, dennoch wirbelt der Wind den gelben und weißen Dreck auf, wirbelt ihn
über die Wäsche im Garten, über die Räder, die angelehnt an der Hauswand
stehen, wirbelt ihn gegen die geschlossenen Fenster. An solchen Tagen im
Frühling wünschte ich, es wäre Winter. Die Kinder wissen nichts von der
totgefahrenen Katze. Motorradfahrer. Ich habe den leblosen Fellklumpen am
Morgen vor der Tür auf der Straße gefunden, habe ihn angefasst, angewidert
aufgehoben und hinter das Haus getragen. Ich habe für Minimiez ein Loch
gegraben. Erst wollte ich die von den Kindern aufgestapelten Äste anzünden,
habe es mir dann doch anders überlegt.
Weil die Wäsche schon hing, und ich nicht wollte, dass die Wäsche nach
verbrannter Katze riecht. Deswegen habe ich ein Loch gegraben während die
Kinder noch schliefen. Als sie dann wach waren und durch das Haus tollten, als
sie herum liefen und die Katze riefen: „Minimiez.
MIIIIIIInnnnnIIIIIImmmmIIIEEEEEEEEEEEEZ!“ habe ich sie schreien lassen. Bis ich
dann nicht mehr konnte. Ich habe die Kinder angeschrien, sie sollen jetzt
endlich den Mund halten und still sein. Ich sagte, Minimiez würde kommen, wenn
sie endlich ruhig und lieb seien. Und dann habe ich sie gefragt, wie das denn
sei, so angeschrien zu werden. Mit großen Augen haben sie mich angeschaut und
nichts mehr gesagt.
Manchmal
dröhnt mir der Kopf. Dann ist es, als wäre ein Schwarm dicker, fetter Hummeln
in meinem Gehirn. Und dort drinnen suchen diese Hummeln sich Platz zwischen all
den Furchen und Windungen. Sie kratzen mit ihren Beinchen gegen meine
Schädelrinde, sie kriechen in die Kanäle und surren und schwirren. Manchmal ist
mir, als sitzen diese dicken fetten Hummeln genau hinter meinen Augäpfeln, da
in diesen Höhlen.
Die
Kinder rennen jetzt barfuß durch den Garten, dicht an dem Loch, in dem Minimiez
liegt, ganz dicht an diesem Loch vorbei. Manchmal treten sie auf die frisch
umgeworfene Erde. Ich werde da etwas pflanzen müssen, denke ich und sehe die
Kinder schreien. Hier im Haus höre ich sie zum Glück nicht. Aber ihre
aufgerissenen Münder, ihre roten Wangen und die Augen sehen nach lautem Gebrüll
aus. Ich müsste Kartoffeln schälen, denke ich, Quark anrühren, den Tisch
decken, zum Essen rufen. Ich müsste all das tun, tue aber nichts. Ich sehe
durch das Fenster auf das Katzenloch, sehe die Kinder und spüre diesem Dröhnen
hinter meinen Augen nach.
Ich
werde die Kinder schicken, sich etwas zu essen zu holen. Sollen sie doch einen
Döner vorn an der Ecke essen. Ist auch gesund. Ich werde sie wegschicken und
dann vielleicht Minimiez wieder ausgraben, die Wäsche abhängen. Vielleicht
machen wir am Abend ein Feuer? Vielleicht gehe ich in den Keller und hole das
Luftgewehr nach oben.
Die Sommer waren warm
und blutig
Der
Bruder meines Vaters schoss auf Spatzen und Tauben. Im Sommer schossen wir
Kinder auf kleine Papierzettel, die der Sohn des Bruders meines Vaters an das
Scheunentor heftete. Als die Papierzettel nicht einmal mehr Fetzen waren,
schossen wir auf Blechdosen. Später schossen wir auf alles was wir sahen. Außer
auf Menschen!
Mein
Vater sprach selten von seinem Bruder. Ich weiß nicht warum, ich weiß nur, dass
wir Kinder, meine Schwester und ich, die Sommerferien beim Bruder meines Vaters
verbrachten. Wir spielten im Sand Wüste, spielten in den Wäldern Räuber und
Gendarm, wir spielten zwischen den Fließen des Spreewald Tom Sawyer und
Huckleberry Finn. Immer waren unsere Spiele um Leben und Tod angelegt. Ich
schlug meiner Schwester eine Zahnecke ab. Meine Schwester schlug dem Sohn des
Bruders meines Vaters ein Auge blau und die Stirn grün. Ich kam auch nicht ohne
Verletzungen davon. Die Sommer waren warm und blutig. Und auch damals waren die
Hummeln in meinem Kopf. Ich hatte versucht, sie mir auszutreiben. Mit Schlägen,
mit Qualm, mit Lärm. Nichts half. Und die Eltern wussten auch von nichts.
In
einem Frühling vor dem letzten Sommer beim Bruder meines Vaters, ging mein
Vater ins Meer und kam nicht mehr heraus. Meine Mutter lief schreiend den
Strand entlang. Sie schrie, dann lief sie wieder. Dann lief sie, dann schrie
sie wieder. Das machte sie abwechselnd stundenlangen, auch Tage später noch.
Als wir Kinder längst schon wieder zuhause waren. Ich stellte mir meine Mutter
oft so den Strand entlanglaufend vor. Wir waren nie wieder ans Meer gefahren
und dann waren meine Schwester und ich auch nicht im Sommer bei dem Bruder
meines Vaters. Alles war plötzlich anders.
Später lief Mutter die Straßen auf und ab. Sie schrie nicht mehr nach
meinem Vater, aber sie lief. Zwar lief sie nicht mehr am Meer, nicht am Strand
auf und ab, aber durch alle Straßen der kleinen Stadt. Sie lief und lief. Sie
lief anstatt uns zu Bett zu bringen, sie lief anstatt uns einen
Guten-Morgen-Kuss zu geben, sie lief anstatt uns ein Brot zu schneiden, sie
lief und lief. Meine Schwester begann zu kochen, ich ging einkaufen, wir gingen
allein zu Schule, allein ins Bett. Wir standen auf, machten uns ein Brot,
gingen zu Schule, kamen nach Hause. Wir taten alles, was andere Kinder auch
taten.
Ich
schicke die Kinder zum Klaus an die Ecke. Das machen andere Eltern auch. Der Klaus
macht ihnen einen großen Döner, da ist alles drin, was Kinder brauchen. Gemüse,
Fleisch, Brot und dann gibt der Klaus ihnen noch ein Getränk aufs Haus. Das
weiß ich und die Kinder freuen sich.
Wie die Lügen in meinem
Kopf wohl aussehen
Klaus
fährt Motorrad. Arme Minimiez. Ich mag Katzen nicht besonders, aber Minimiez
gehört eben zur Familie. Gehörte! Der Fellklumpen war längst nicht mehr
Minimiez, wie ich sie akzeptieren konnte. Meine Kinder lieben diese Katze
abgöttisch. Die Kinder sind klein, sie verstehen noch nichts vom Verschwinden
geliebter Familienmitglieder. Vielleicht ist es besser, ihnen zu sagen, die
Katze sei davongelaufen. Freiwillig. Das Verständnis für den Fortgang eines
geliebten Menschen haben sie auch noch nicht, aber das ist einfacher zu
ertragen. Weil ein Fortgehen ja immer auch die Möglichkeit eines Wiederkommens
birgt.
Ich
bin nie wie Mutter auf und ab gegangen, ich war auch wieder am Meer gewesen,
aber ich hatte nie aufgehört daran zu glauben, dass mein Vater wiederkommen
würde. Wie sonst hätten meine Schwester und ich jeden Morgen wieder aufstehen
und zur Schule gehen können? Wie sonst hätten wir so allein mit einer Mutter,
die keine Mutter mehr sondern eine Läuferin geworden war, wie hätten wir das
alles machen können, was andere Kinder auch taten? Wie hätten wir Morgen für
Morgen aufstehen und einfach so weitermachen können, wenn wir geglaubt hätten,
dass unser Vater niemals wiederkommen würde? Wir malten Bilder für ihn, wir
schrieben Geschichten, in denen mein Vater der Held war und blieb.
Ich
hasse meinen Hummelkopf. Er dröhnt. Und es sind nicht nur die Lügen. Die Ärzte
sagen da sei etwas. Sie haben Worte dafür, sie haben Bilder, die eigentlich
ganz schön aussehen, solange die Ärzte nicht alles benennen, was darauf zu
sehen ist. Die Ärzte haben mir alles erklärt und ich habe einfach nicht
zugehört. Ich habe meinen Hummeln nachgespürt, habe gespürt, an welcher Stelle
meines Hirns sie gerade kratzen und schwirren. Ich habe mir die Worte angehört
aber eben nicht zugehört. Die Bilder durfte ich in Kopie mit nach Hause nehmen.
Die Kinder und ich haben bunte Kreise und einige Hummeln und Bienen dazu
gemalt, und dann haben wir die Bilder an den Kühlschrank geheftet. Nachts, wenn
die Kinder schlafend in ihren Betten liegen, sehe ich mir manchmal diese Bilder
an und überlege, wie die Lügen in meinem Kopf wohl aussehen mögen.
Ich
sehe die Kinder nicht mehr schreien. Ich sehe sie wieder über die frisch
umgeworfene Erde des Katzenlochs laufen. Sie wundern sich nicht darüber. Sie
rennen und sehen zufrieden aus. Keine blauen Augen, keine geschwollene Stirn.
Nichts, worüber ich mir Sorgen machen müsste.
Ich muss schauen, ob das Gewehr noch im Keller steht.
Ich mag keine Waffen,
aber manchmal erfüllen sie eben doch den Zweck
Die
Kinder sind bei Klaus, dem Motorradfahrer und Dönermann von der Ecke. Hätte ich
die tote Minimiez nicht schon in das Erdloch geworfen, hätte ich vielleicht
noch Abdrücke von den Radspuren nehmen können. Dann hätte ich die mit den
Rädern vom Klaus vergleichen können. Ich mag mir das nicht vorstellen, aber
möglich ist alles. Und wenn das dann so wäre, wie es möglich sein könnte,
stände ich auf der Seite des Gewehrs, an der der Abzug einfach und schnell zu
betätigen ist. Spannen und Peng! Armer Klaus. Da müsste ich ein tieferes und
größeres Loch im Garten graben, vielleicht ein neues Beet anlegen. Arme
Minimiez! Auch wenn ich die Katze nicht mochte, gehörte sie zur Familie und ihr
Tod tut mir leid.
Die
Kinder lieben Erdbeeren und Eis im Sommer. Ich wünsche manchmal im Sommer, es
wäre Winter, wie ich es im Frühling auch wünsche. Wenn der Sand die Luft körnig
macht und selbst die Vögel zu träge zum Zwitschern sind. Erst kitzelt der
Schweiß im Nacken, in den Kniekehlen, dann klebt er und wird so sandig wie die
Luft. Ich habe den Kindern nicht viel von den Lügen aber von den schönen Dingen
in meinem Kopf erzählt. Dass Menschen, die ins Meer gehen und nicht an der
Stelle wieder herauskommen, an der sie in das Meer hineingelangt sind, dass
diese Menschen auf der anderen Seite des Meeres wieder heraussteigen. Sie
wechseln einfach die Ufer, habe ich den Kindern gesagt, und dass das magische
Menschen sind. Menschen, die durch Raum und Zeit gehen können. Ich habe ihnen
auch von den Menschen erzählt, die im Kreis laufen und scheinbar wirres Zeug
erzählen. Aber es ist kein wirres Zeug, habe ich den Kindern gesagt, es sind
Worte von Menschen, die die Dinge nicht aussprechen können. Und die Menschen,
die da laufen und all das aussprechen, was andere nicht laut sagen können, dass
diese Menschen eine besondere Gabe haben und eine spezielle Aufgabe übernehmen.
Sie nehmen den nicht sprechenden Menschen die Worte ab und geben ihnen ihre
Stimme. Ohne diese Menschen gäbe es riesige Wortstaudämme, die dann irgendwann
überlaufen und alle überfluten würden.
Jetzt
krabbelt eine Hummel hinter dem rechten Augapfel zum linken hinüber. Erst
kitzelt es dort, wo das Nasenbein zwischen den Augenbrauen verschwindet. Dann
sticht es links, dann wieder rechts, dann drückt es hinter dem linken Auge und
es fühlt sich an, als wolle der Augapfel aus der Fassung fallen. Ich lehne
meine Stirn gegen das Fensterglas, sehe auf das Minimiez-Erdloch und kühle mir
am Glas den Punkt zwischen meinen Augenbrauen.
Es
ist sicherlich noch eine halbe Stunde Zeit, bis die Kinder zurückkommen. Ich
lehne mich zurück und wühle den Schlüssel für die Kellertür aus der Schublade.
Wenn ich mich richtig erinnere, müssen neben dem Gewehr die Papierzettel mit
den aufgedruckten Zielscheiben liegen. Ich hoffe, die Feder wird sich nach so
langer Zeit noch spannen lassen. Ich mag keine Waffen, aber manchmal erfüllen
sie eben doch den Zweck.
Von allen Hummeln
verlassen
Ich
spüre sie nicht nur, ich höre sie auch. Ich höre sie in meinem Kopf, höre sie
mit ihren Hakenfüßchen durch die Furchen wühlen, spüre, wie sie mit ihren
Flügelchen zittern. Frontal-, Temporal, Parietallappen, alles Arztworte, alles
Orte in meinem Hirn, alles der Lage und Aufgabe zugeordnete Areale. Vorn,
hinter der Stirn, seitlich an den Schläfen und von hinten, als würden sie die
Wirbelsäule hinauf und hinein in meinem Kopf kriechen. Überall spüre und höre
ich sie. Hummelstock, dieser Schädel. Sie sind überall. Und dort draußen das
umgeworfene Katzenloch. Die Flinte lehnt noch am Tisch. Minimiez ist ein
Beweisstück. Ich habe den Fellklumpen ausgegraben und in eine Folientüte
geworfen. Erst holte ich das Gewehr aus dem Keller, dann Minimiez aus der Erde.
Die
Kinder werden gleich zurück sein. Mit vollen Mägen, mit zuckrigen Lippen und
einem kalten Döner für mich im Beutel. Ohne Zwiebeln, ohne Tomaten aber mit
scharfer Soße. Aber bevor sie hier sind, gehe ich vielleicht besser hin. Klaus
hat ein Motorrad. Mimimiez wurde überfahren. Hummeln im Kopf und Lügen im
Hintern. Miniklaus wohnt an der Ecke, die Kinder sind Döner. Hinter meinen
Ohren brennt es. Meine Nase läuft. Im Ohr ein Rauschen und Hummelflügel, die
gegeneiner, gegeneiader, g e g e n e i n a n d e r reiben. Blut aus meiner
Nase. Das Luftgewehr lehnt am Tisch. Die Zielscheiben in den Tüten der Kinder.
Ohne Zwiebeln aber scharf.
Die
Lügen haben laute Flügel. Ich höre sie in meinem Kopf. Es muss in meinem Kopf
sein, denn wenn ich die Ohren zuhalte, höre ich sie trotzdem. Ich höre Vater
aus dem Meer kommen, ich sehe Mutter rufen, ich grabe den Kindern ein Erdloch
und werfe es um. Spannen! Die Feder muss gespannt sein. Peng! Schussbereit.
Zuvor Munition einlegen, Zielscheibe fixieren.
Peng! Speder muss gefannt. Mution legen. Eng!
Ich
höre alle Hummeln gleichzeitig. Ich sehe die Kinder kommen. Ich will schreien.
Ich schreie nicht. Ich muss die Hände an die Ohren, nein, die Hände an die
Flinte legen. Nicht abdrücken ohne zu zielen. Klauskinder. Kalten Döner in die
Tüte zur kalten Katze. Beweismaterial. Spurensicherung. Nicht ohne mich. Nicht
mit mir.
Peng!
Ein Kind fällt um. Die Hummeln kreischen. Spannen. Peng! Noch ein Kind fällt
um. Aus der Nase läuft Blut. Spannen. Die Hummeln kratzen, werden größer,
werden groß, kommen mir aus den Ohren heraus, aus der Nase, aus dem Mund, ich
erbreche pelzig und stachelig. Peng! Tot.
Drei
Kinder liegen, liegen auf aufgewühlter Erde. Liegen im Frühling, als wäre es
Sommer. Blutig und noch warm. Mein Kopf ist von allen Hummeln verlassen. Peng!
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