Mittwoch, 10. Juni 2015

Bevor Vater brannte, brannte das Federviehhaus


Noch hört man sie schreien. Mutters Schreie waren immer bis zum dritten Haus links an der kleinen Kreuzung zu hören. Das sah ich den Schuberts an, wenn ich mit dem Rad an ihrem Garten vorbei fuhr. Als wären ihre Gesichter irgendwie mit dem Schreien meiner Mutter verwandt. Diese Ähnlichkeit. Ich hatte es auch gehört und statt nach Hause zu fahren, bog ich häufig an der Kreuzung ab und radelte eine halbe Stunde sinnlos mit dem Fahrrad durch die Gegend. Rechts stehen keine Häuser, da beginnt direkt der Wald. Und wer in den Wald hinein oder auch hinaus horcht, der hört ganz andere Geräusche als nur Mutters Schreien.  

Vater dagegen ist kaum zu hören. Vater ist groß und wenn man ihn sieht, denkt man, ein so großer Mann muss laut sein, seine Schritte, sein Atmen, Worte, die er in seiner großen Stimme sagt. Alles muss laut sein, denkt man. Aber so groß wie Vater ist, so laut ist er nicht. Eigentlich passen meine Mutter und mein Vater nicht zueinander. Oder vielleicht doch, weil: wenn einer zu leise ist, der andere automatisch lauter wird, quasi laut für den anderen mit. Vielleicht ist das anderswo auch andersherum. Für mich jedenfalls steht fest, meine Mutter und mein Vater passen nicht zueinander und deswegen gehen sie sich aus dem Weg. Mutter schreit aus der Waschküche durch das Schlafzimmer, durch den Hof, den schmalen, langen Flur entlang, schreit und die Schuberts drei Häuser links von unserem Haus, hören Mutters Geschrei. Aber Vater sitzt im Garten und füttert stumm die sieben Hühner, den einen Hahn. Hört nichts und sagt nichts. Oder sagt nur puuut putt putt und freut sich, wenn das Federvieh gurgelnd um ihn scharwenzelt. 


Wobei; ich muss sagen: saß und sagte oder sagte nichts, fütterte usw. Denn jetzt macht das mein Vater nicht und er wird es auch in Zukunft nicht tun. Vater brennt jetzt. Und Mutter schreit. 


Bevor Vater brannte, brannte das Federviehhaus. Es brannten die Federn, denn die Hühner und der Hahn waren noch im verschlossenen Häuschen, waren gefangen und wurden selbst zum Feuer, das wütete und nicht nur im Stroh bleiben wollte, sondern raus und weit und weg und an die Luft. Bevor die Federn brannten, brannte das Stroh unter den Federviehfüßchen. Brannte erst leise, nur ein Glimmen, dann schlug es wohl um sich, schlug und fasste die Hühner und den Hahn an den gestutzten Flügeln.


Mutter wusste zu dem Zeitpunkt nichts vom Brand. Sie hatte wohl gerochen, dass Federn versengten, doch dachte sie, es würde einer der Schuberts geschlachtet und das tote Tier durch Feuer geschwenkt haben. Das ist einfacher als Rupfen. Mutter hatte sich nichts dabei gedacht.


Als Mutter meinen brennenden Vater sah, rannte sie statt zu ihm nur im Kreis und kreischte. So ein Gekreisch hatten selbst die Schuberts noch nicht gehört, ihnen stockte der Atem und mir geriet das Lenkrad aus der Hand. Ich sah vom Waldrand Mutters kreischende Kreise und meinen flammenwerfenden Vater. Das Hühnerhaus sah ich nicht, es war längst zusammengestürzt und hatte die sieben Hühner und den einen Hahn genau wie das Stroh, die eigentlich alle nur noch Feuer waren, unter sich begraben.


Einer von den Schuberts kam schneller gerannt als die Übrigen. Er warf meinen brennenden Vater zu Boden, wälzte ihn, als rolle er Teig aus. Die Flammen schlugen wie Fäuste um ihn. Er schrie zu Mutter, die immer noch Kreise lief. Das Lenkrad kriegte ich nicht mehr zu fassen. 


Noch immer hört man sie schreien. Das Gekreische ist vorbei, hatte aufgehört, als mein Vater längst nicht mehr als mein Vater zu erkennen gewesen war. Der eine Schubert wurde von dem Rettungsteam verarztet, meine Mutter saß still und schrie. Also reglos. Ich stand rechts vom Haus, dort, wo direkt der Wald beginnt. Das Fahrrad lag zwischen meinen Beinen, ich stand ungemütlich, ich bekam Krämpfe. Ich überlege, ob ich Vater habe rauchen sehen, ob ich Mutter habe die Zündhölzer einstecken sehen. Ich weiß, ich habe die Zigarette ausgetreten, bevor ich das Hühnerhaus verriegelt hatte.

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