Montag, 3. März 2008

102

Analphabet

Ich treibe mit Eniso auf dieser Geschichte seit unserer Kindheit. Links, rechts von uns zeichnen sich die Spuren der Zeit. Und ich frage Eniso, ob wir nicht besser einen Spurenleser hätten mitnehmen sollen. Einen, der etwas von der Sache versteht. Aber Eniso schüttelt nur den Kopf und legt dann das Kinn auf die Brust. Als trage er im Unterkiefer eine schwere Last. Damals gingen wir ohne Furcht an Bord. Wir sammelten Holzstämme, die nicht dicker als Kinderbeine waren und banden sie mit Seilen zu einem Floss zusammen. Stolz wie nur Kinder stolz auf ihr Handwerk sein können, trieben wir auf den schmalen Fließen, die die Spree abgibt, wie eine Hauptschlagader Adern und Kapillaren abzweigt.

Eniso sagt, die Zeit ist nichts, was man gelernt haben muss. Und wenn wir eine Spur nicht erkennen, folgen wir ihr eben nicht und umgehen so eine mögliche Gefahr. Schließlich treiben wir in der Mitte und links und rechts, das ganze am Ufer Gelegene soll uns nicht aufhalten. So treiben wir und kümmern uns nicht um die Spuren, weil sie nie bis auf die Wasseroberfläche gelangen, immer nur am Rand, immer nur erdig bleiben.

Manchmal, wenn nachts die Lichter beginnen um uns herum zu schwirren und ich nicht weiß, sind es die Sterne, die sich so nah getraut haben und surren, oder ob es weiter, viel tiefer im Himmel diese leuchtenden Fliegen sind, die reglos innehalten, dann komme ich ins Grübeln. Auch über die Spuren, die ich tagsüber sehe, und die Eniso so gekonnt überspielt. Immer lenkt er mich ab, macht einen Scherz oder sagt ganz ernst, ich solle dies und das tun. Und sobald ich dann wieder Ausschau nach den Spuren halte, sind wir schon an ihnen vorüber. So, als könne man dagegen gar nicht ankommen. Gegen das Vorwärtstreiben.

Eniso hat braunes Haar, das sich von seinem Kopf über den Hals bis auf die Brust ausweitet. Früher war das anders, da konnte ich die zarte Haut noch sehen. Aber inzwischen ist ihm ein Wald gewachsen, und die Haut liegt wie im Unterholz immer schattig. Dort wird nichts blühen, denke ich, wenn ich ihn so sehe, und höre, wie es kratzt, wenn er mit den Fingern durch seinen Wald greift. Ich habe Angst, seit wir auf dem Wasser treiben, war ich nicht mehr im Unterholz. Ich fürchte, ich könnte stolpern, mir ein Bein oder einen Arm brechen, und Eniso würde es nicht bemerken, würde weitertreiben. Mich vergessen, wie er manchmal auch die seltsamen Spuren am Uferrand vergisst. Weil er sich nicht merkt, womit er sich nicht beschäftigt. Er ist stark und manchmal, wäre ich gern ein bißchen wie Eniso. So über die Dinge hinausgewachsen.

Unser Floß ist geschrumpft. Wir sind schon Jahre unterwegs und müssen immer öfter Abstand zueinander gewinnen. Unaufgefordert ist dieses Gespür gegenüber dem Anderen da. Wie eine leise Brise weht es mir um die Nase. Ich rieche und kenne den Geruch. Nach und nach gewinnt er an Stärke. Es stinkt. Gerüche sind wie Empfindungen. Plötzlich sind sie da. Am schönsten Sonnentag, im schrecklichsten Regenwetter, bei Sturm und Wind. Nichts ahnend fließt man und mit einem Mal drängt sich ein Geruch ins Gesicht. Macht einen wirr, ungehalten, zwingt einen, die Nase zu rümpfen, das Atmen sein zu lassen. Und so ist es, wenn unerwartet das Gefühl in einem von uns aufsteigt, den anderen nicht länger so nah bei sich ertragen zu können. Ich sehe es Eniso an, und ich denke, er merkt es ebenso. Dann kriecht einer bis auf die äußerte Kante des Floßes und wartet, bis die Luft wieder rein ist. Im Sommer springe ich auch schon einmal vom Floß ins Wasser. Aber im Winter wage ich das nicht, weil ich nie weiß, wie lange dieses Gefühl anhält und ob mein Körper das bei dieser Kälte verträgt. Eniso mag es nicht, wenn ich darüber spreche, aber einmal fragte ich ihn, was er meine, ob wir nicht auch Spuren hinterlassen, vor allem dann, wenn die Luft unrein zwischen uns wird. Aber er blieb still, griff mit seinen schweren Fingern in sein Untergehölz, dass es krachte und knirschte, als drohe sich ein wilder Sturm an oder ein Bär, ein Elch, ein Wasweißich. Und um diesen Lärm, den seine Finger verursachten, wurde sein Schweigen umso größer, bedeutender, schwerer. Ich ertrug diese Last beinah nicht und spürte etwas Feuchtes im Augenwinkel. Doch vor Eniso konnte ich unmöglich weinen. Also ließ ich ihn in seinem Wald. Sollte er doch dort, seine Vögel aufschrecken.

Öfter, beinah jeden Tag fällt es mir jetzt auf. Eniso wird erdig. Auf ihm erkenne ich Spuren, deren Füße ich nicht zuordnen kann. Ich kenne Reh-, Hasen-, Bären-, Vogel- und allerlei andere Spuren. Aber was ich auf ihm lese, verstehe ich nicht. Ich sage nichts, denn ich fürchte, Eniso würde lachen und denken, ich habe Lesen und Schreiben verlernt, weil wir so lange schon treiben. Ich habe Angst, ein wirklicher Analphabet zu sein und hätte so gern jemanden, der mir die Spuren der Zeit erklärt, die jetzt auch auf Eniso deutlicher werden.

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