Sie beißt. Beißt sich so regelmäßig in den Arm, wie andere
auf ihre Uhren schauen. Uhrzeiten, die längst nicht mehr am Handgelenk
festhängen. Uhrzeiten, die aus der Hosentasche gezogen und flach vor sich gehalten,
mit der Wetterlage und gerade getippten Worten abgeglichen werden. Die Uhrzeit,
denke ich, ist auch nur ein Dasein, eine Lage in der Welt, eine Achse des
Systems. Beinah sogar, ist die Uhrzeit von ihrer Wichtig- und Notwendigkeit
losgelöst. Von uns jedenfalls. Oder wir von ihr? Wir, die wir immer und immer
und immer und immer erreichbar, einsetzbar, verfügbar sind. Hier bin ich, hier
habe ich zu sein! Hier und dort und da und jetzt und später und bald und, und,
und. Die Uhrzeit in der Hosentasche glänzt und
leuchtet und vibriert.
Sie beißt sich. Beißt in den Arm und um die Bissstelle
wuchern Haare, ein dunkles Gewächs, eine Abwehr, eine Mauer, die nicht schützt.
Haare. Anders kann der Körper nicht. Haare zum Schutz gegen äußere Einflüsse.
Als würden wir nicht jedes Einzelne zupfen, reißen, schneiden können. Als zupften,
schnitten wir nicht, als rissen wir nicht, als würde nicht einer von uns, jedes
einzelne Haar, mit einer Pinzette greifen und heraus zerren.
Ich sitze in der Bahn der gegenüber, die sich beißt. Neben
ihr hat niemand Platz genommen. Neben mir Frauen im Gespräch. Die Gegenüber
beißt sich. Links von mir redet eine von Radieschen im Winter, ihre Mitrednerin
berichtet von Erdbeeren. Ich höre sie die Köpfe schütteln, während ich die
Gegenüber beißen sehe.
Ich bin erschöpft. Meine Tasche habe ich auf dem Plastiksitz
in der S-Bahn-Station stehen lassen. Unbeabsichtigt! Erst als die Bahn längst
aus dem Tunnel ausgefahren war, fiel mir auf, was mir fehlt. Ich hätte aus der
Bahn springen und die nächste in die Gegenrichtung nehmen, hoffen können, meine
Tasche würde noch dort stehen, wo ich sie hatte stehen lassen. Das tat ich
nicht. Ich blieb sitzen. Ich sitze noch immer und fahre Ringbahn. Einmal um den
Stadtkern. Mit Aussicht auf eine Frau, die sich in den Arm beißt, der Haare aus
der Bisswunde wuchern, mit Ausblick auf eine Zeit ohne Tasche, eine Zeit ohne
Gehäuse.
Ich bin erschöpft. Erst als die Frau mit den Radieschen mir
ein Taschentuch hinhält, bemerke ich meine Tränen. Es passiert mir das erste
Mal, dass ich vor Erschöpfung weine. Oder auch deshalb, weil ich vor
Erschöpfung nicht weiß, wohin und was und weshalb und wann. Ich sitze. Die Frau
mit den Radieschen und ihre Mitrednerin sind längst ausgestiegen. Ich sitze und
wir fahren inzwischen zum dritten Mal in den S-Bahnhof Gesundbrunnen ein. Steig
aus, denke ich. Steig aus, schreie ich der Beisserin entgegen. Sie solle hier
endlich aussteigen. GESUNDBRUNNEN, brülle ich. Hier solle sie aussteigen und in
den Brunnen springen. Wie Goldmarie, schreie ich. Und da guckt sie mich an,
nimmt ihre haarige Bissstelle zwischen ihren Zähnen hervor. Goldmarie, sagt sie
und lacht. Hält den unbebissen Nichtsnutzarm vor den Mund und lacht, kreischt.
Ja. Goldmarie, sage ich. Und hier sei für sie jetzt Endstation. AUSSTEIGEN,
brülle ich.
Ringbahn. Zurücktreten. Bitte!, nuschelt der Fahrer durch
Lautsprecher.
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