Donnerstag, 9. Januar 2014

Namenlos, die Alte auf der Tankstelle, namenlos der Ort und die Zeit rundum. Ich rechne mir an den Fingern aus, welche Jahreszahl zu der Alten passend wäre. Ich errechne mit meinen zehn Fingern eine Unmenge an Zahlen. Keine erscheint mir geeignet, die Alte auf der Tankstelle zu beziffern. Bleibt sie mir eben unbezeichnet, was ja auch sein Gutes hat. Denn das, was man namentlich kennt, dafür fühlt man sich mitunter, wenn auch nur ein wenig, doch man fühlt sich mitunter verantwortlich. Und für die in den Mülltonnen der Tankstelle grabende Alte möchte ich nichts fühlen. Empfinde mich ja selbst kaum, ertappe mich nur selten in dem Zustand eines Mitgefühls. Lass sie reden, sage ich mir immer, wenn sie reden und mit Mitgefühl prahlen. Wer redet, soll eben auch anwenden, sage ich. Und bringe postwendend die Unfähigkeit für Mitgefühl auf.

A. sagt dann manchmal, er wisse gar nicht, was er an mir finde, und was an mir, ihn halte. Und ich gucke und strecke ihm mich entgegen. Du wirst schon wissen, denke ich dann, und strecke noch mehr und sehe seinen Blick über mein gestrecktes Sein streifen, als streife er durch unwirtliche Gegenden. Was weiß ich, was ihn hält. Meine Hände können es nicht sein.
A. ist ein Mann mit Maß. Das richtige Augenmaß zur immer rechten Zeit. A. hält Abstand, wenn Abstand geboten ist, A. tritt heran, wenn der Umstand der Nähe bedarf. A. ist immer in richtiger Distanz zu mir. Und deswegen bin ich bei ihm, und ich werde solange bleiben, solange A. mit dieser wunderbaren Maßarbeit umzugehen versteht.

Vor der namen- und zahlenlosen Alten auf der Tankstelle senkt er den Blick. A. schaut ungern anderen Menschen in ihrem Elend zu. Dabei sage ich, er wisse doch gar nicht, ob die Anderen ihren Umstand als Elend empfinden. A. bleibt dann oft still und ich bin gar nicht sicher, ob er wirklich still bleiben möchte oder sich viel mehr dazu zwingen muss. A. ist mir nicht immer durchschaubar. Seit Jahren ergründe ich ihn und sein Verhalten. Alles Verhalten lässt sich systematisch einteilen. A. überrascht mich bisweilen. Auch deswegen bleibe ich. Ich bleibe immer solange, bis ich einem System auf die Schliche gekommen bin und mich die Umstände zu langeweilen beginnen. A. langweilt mich nicht. Noch nicht. Bisher für eine ungebrochen lange Zeit. Das beeindruckt mich. A. weiß davon nichts. Muss er aber auch nicht.

Die Alte auf der Tankstelle. Diese Tankstelle liegt auf dem Weg, der Weg zwischen Innenstadt und Wohnung. Wir wohnen abseits, ein wenig von den Hauptstraßen abgerückt, ein wenig zurückgestellt, ein wenig von Nebenstraßen umgeben, ein wenig hintan gerückt. Unsere Wohnung, die anfangs nur A´s. Wohnung gewesen war, liegt im obersten Geschoss. Keine Schritte, die kopfüber treten, keine unnötigen Besenstiele, die man gegen die Decke stoßen müsste, nur die Ratten, die nachts über die Dachbodendielen kriechen. Auch A´s. Wohnung weiß Maß zu halten. Wenig Platz aber nirgends rücken einem die Dinge, sind es nun Möbel oder andere Sachen, zu nahe. Alles hält seinen Raum und damit auch meinen. Wäre es anders, wäre ich nicht zu A. gezogen.

Die Tankstelle liegt genau in der Mitte. Gleicher Abstand zu unserer Wohnung und zum Stadtzentrum. Ein Dreh- und Angelpunkt also, ein Anhalt für Radius und Durchmesser, ein Punkt, an dem das Pendel immer diese wenigen Sekunden zum Ruhestand kommt. Ruhig zwischen Fall- und Aufstiegsbewegung. Und so stehen wir hier, stehen und sehen die Alte, die weder Namen noch Zahlen verrät. Sehen ihr beim Graben in den zu hoch hängenden Papierkörben zu. Die Körbe hängen so hoch, dass man den Arm ein wenig strecken muss, um etwas hinein zu werfen. Um in ihnen zu graben, bedarf es eines Hockers, bedarf es eines Gegenstandes, womöglich einer auf dem Kopf stehenden Bierkiste, etwas was einen selbst ein Stück erhöht, sodass man mit den Armen oder einem Stock als Hilfswerkzeug hinein, also nach unten greifen kann. Also graben. Umwühlen, scharren und suchen. Sich durch benutzte Papiertaschentücher, ob nun für den Nasenrotz oder anderen Körperschmutz gebraucht oder einfach nur zum Trockenwischen eines Fahrradsattels, oder gebraucht um eine blutende Wunde abzudrücken, gebraucht und weggeworfen. Eben dieses kleine Stück nach oben, um die Papierkorböffnung zu treffen, dieses kleine Stück nach Oben geworfen, um dann nach Unten zu fallen. Graben zwischen angebissenen Apfelstielen und leeren Dönerpapierhülsen, graben und scharren bis zum Grund. Um was zu finden? Einen verschmähten und deswegen weggeworfenen Burger? Eine nicht im Fall von oben nach unten zerborstene Pfandflasche, eine nicht bis zum Schluss abgelutschte Bonbonverpackung, eine vom Schimmel angegriffene Bananenschale?

A´s. gesenkter Blick stört mich, stört ebenso, wie Kinder, die nicht wissen wohin, während die Eltern sich unterhalten. Wissen nicht wohin mit sich, wissen nichts mit der aufmerksamkeitslosen Zeit anzufangen und beginnen also die elterliche, die Pflichtaufmerksamkeit, Pflichtfürsorge wieder auf sich zu lenken. Kinder stören mich zuweilen und jetzt stört mich A´s. gesenkter Blick. Als würde der vom Umstand abgewandte Blick den Umstand ungeschehen machen. Ja. Ungesehen. Ja. Und ja, so lösen sich Eltern auch aus den vertracktesten Gesprächsknoten, sich an ihre Elternaufmerksamkeitspflicht erinnernd, winden sie sich heraus und wenden sich ihrem schreienden, krallenden, schniefenden, ihrem ungeduldigen Kind zu. Da ist nirgends wirklich Abstand oder angemessene Distanz, da ist aber auch keine angemessene Nähe. Das ist ein ganz unwirklicher Zustand, ein kaum auszuhaltendes Inmitten-Sein, ein Schweben zwischen unbestimmten Bewusstseinszuständen. Unerträglich beinah. Da muss ich erst suchen, welchem System ich nun angehöre und welches Verhalten dieses System jetzt abverlangt. Wenn die Regeln dann alle befolgt sind, ist die Gefahr gebannt. Zumeist folge ich dem einfachsten System, nämlich meinen. Meiden und Umgehen. Situationen meiden und umgehen, sich, also mich in Sicherheit, heißt in einen gewissen Abstand bringen. Die Unfähigkeit des Mitgefühls nutzen und sich entziehen. Das ermöglicht mir die Szenerie zu beobachten. Ich kann anwesend und doch völlig unbeteiligt sein.
A. schaut zu der Mülltonnenalten, schaut über sie wie über eine endlos schöne Landschaft. Verliert sich beinah im Schauen, bis ich ihn stoße, so leicht mit dem Ellenbogen in die Seite stoße. Ich werde nicht schlau aus seinem Verhalten. Erst wegsehen, dann hinsehen, dann davon nicht mehr wegsehen, sondern beinah schon starren. Und nichts daran ändert den Umstand der Alten. Nichts von diesem ganzen Schauen erleichtert ihr ihre Grabarbeit, nichts davon holt diesen elenden Müllkübel tiefer, sodass die Alte einfach hineinsehen könnte, einsehen, ob das Hineingreifen in die schimmligen Schalen, die zerborstenen Scherben, ob das Hineingreifen in den grüngelben Rotz, in das getrocknete Blut, in den klebrigen Bonbon, ob es sich denn wirklich auch lohnt dort hineinzugreifen.

Ich kralle meine Finger in seine Handfläche. Ich kralle und spiele Vogel. Ich spiele, ich könnte abstürzen, sollte ich nicht fest genug krallen. Weißt du, flüstere ich in die Stadtzentrumrichtung. Weißt du, die meiste Zeit habe ich Angst. Angst, sollte ich die Augen schließen, sollte ich ruhig und in guter Gewissheit, alles bleibt wie es ist, sollte ich so die Augen schließen um sie unbesorgt wieder zu öffnen, und sollte ich dann meine in Unbekümmertheit geschlossenen Augen wieder öffnen, vielleicht nur leicht, ganz sacht einen winzigen Moment breit, nur öffnen, wie man Augen nach einem Lidschlag wieder aufschlägt. Die Angst, dann wäre da plötzlich wieder eine Mauer. Eine Mauer mitten im Land, mitten in der Stadt, mitten durch unsere Leben hindurch. A. lacht. Ich wusste, er würde lachen. Aber ich kralle an seiner Hand, ich stürze nicht ab. Ich wollte es nur mal gesagt haben, sage ich.

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